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Schurken-Panoptikum auf 500 Seiten:
 
Dünne Luft für Hirschfeld-Fans

Immer häufiger, wenngleich noch selten genug, wird Homosexualität nicht nur zum Forschungsthema homosexueller Wissenschaftler - diese bekommen nun auch akademische Anerkennung, selbst dann, wenn ihre Arbeiten sich in den Dienst der sexuellen Emanzipation stellen wollen. Der dem Gigi-Publikum bereits bekannte Medizin- und Wissenschaftshistoriker Florian Mildenberger legt seine Habilitationsschrift "'... in der Richtung der Homosexualität verdorben' - Psychiater, Kriminalpsychologen und Gerichtsmediziner über männliche Homosexualität 1850 - 1970" in der "Bibliothek rosa Winkel, Sonderreihe Wissenschaft" des Hamburger Verlags "MännerschwarmSkript" gegen 32 Euro nun auch einem breiteren Publikum vor, das nicht M's universitäre Lehrbefähigung beurteilen, sondern vielleicht nur wohlige Schauer empfinden möchte: des Grauens und der Abscheu vor den als Wissenschaft auftretenden Instrumenten der vergangenen Schwulenverfolgung und der Freude über ihre endlich erfolgte Historisierung. Auf 510 Seiten, von denen 129 Seiten reine Literaturangaben und dreieinhalb Seiten Archivaliennachweise enthalten, präsentiert M ein Kompendium von Schurken und Schandtaten aus Medizin, Psychologie und Juristerei, das hier nachzuerzählen nur die Hälfte seines Platzes bräuchte, weil die Hälfte der rund 350 Textseiten noch einmal für die Fußnoten draufgeht - macht summa summarum ein Büchlein von ziemlich genau 175 (huch!) Seiten netto. Die Fußnoten sollte man jedoch keinesfalls überlesen, denn ausführliche Kurzbiographien zu jedem einzelnen Schurken ersparen das eigene Nachschlagen in Munzingers biographischem Archiv; leider fehlt die besondere Kennzeichnung der jeweiligen Biographie-Seite im Namensregister, was den lexikalischen Wert begrenzt. Dafür gibt es aber auf fünf Anhangseiten die Wortlaute der einschlägigen Verfolgungsgesetze der Nazis. So ausführlich dokumentiert M die anti-schwulen Bosheiten einer Wissenschaftszunft, daß manche Seite nur sechs Zeilen Text, aber 35 Zeilen Fußnoten aufweist. Und hätte der Verlag auf dem Buchrücken nicht der geneigten Leserschaft das Geburtsjahr des Autors aufgedrängt (1973), man hätte glauben mögen, M habe Zeit genug gehabt, die mehr als 3000 Literatur- und Archivquellen seiner Habil tatsächlich alle selbst zu lesen - jeden Tag eine, mit Such- und Reisezeit, macht 8 Jahre mindestens.

Mit Unterstützung von Sekundärliteratur, von Manfred Herzers "Bibliographie zur Homosexualität. Verzeichnis des deutschsprachigen nichtbelletristischen Schrifttums zur weiblichen und männlichen Homosexualität aus den Jahren 1455 bis 1975" (Berlin 1982) und von einer Heerschar Professores und Doctores, denen M im Vorwort dankt, entstand eine weitere Leidensgeschichte der Schwulen, die dem Fachwissenschaftler im einzelnen wenig Neues bringen mag, fürs Publikum in der Zusammenschau über hundertzwanzig Jahre jedoch ein eindringliches Bild einer menschenverachtenden Wissenschaft entwirft, der das Individuum mit einer vom Durchschnittsheteroehefick abweichenden sexuellen Präferenz nur als Patientengut und Therapieobjekt diente. All die Martyrien der Hypnose-Behandlung, der angeblichen Heterohoden-Transplantation (zu einer Zeit, als die Immunabwehr körperfremder Organe den Chirurgen noch eine unbekannte Variable des Operationserfolgs war, weshalb ich die Berichte der frühen 20er Jahre über therapeutische Hodentransplantationen für Fakes von Wichtigtuern und/oder Totschlägern halte; M schreibt hierzu nichts Kritisches), der Kastration, Hormon-Therapie, Aversion indizierenden Elektrostimulation vermeintlich schwuler Gehirnregionen, Leukotomie/Lobotomie (Gehirnchirurgie) und Elektroschockbehandlung, um "es" wegzumachen, stellt M dar und nennt die Täter namentlich. Die meisten gehörten zur Elite der Psychiater und (nicht-freudianischen) Psychotherapeuten des deutschsprachigen Raums, mindestens bis in die 70er Jahre. Heutzutage braucht es nicht viel, ihre Theorien ad absurdum (vor-) zu führen, und oftmals reicht M hierfür die bloße Darstellung aus.

Mehr Platz, den meisten Platz für einen einzelnen Täter, verwendet M auf Magnus Hirschfeld. Er war zwar kein Psychiater und nur bisweilen "Gerichtsmediziner" (worunter M offenbar nicht die Kollegen von Quincy und Scully versteht, sondern externe Gerichtsgutachter), aber angeblich der Antipode, an dem sich die Schulpsychiatrie abarbeitete. M zeigt auf, daß Hirschfelds vermeintlicher Gegenstandpunkt (hier wäre vieles anzumerken zur tatsächlichen wechselseitigen Befruchtung, sehr viel mehr, als M auf der Pfanne hat) seinerseits alles andere als emanzipatorisch war: sein Werben um Verbündete aus dem völkischen Lager, sein Engagement in der Rassenhygiene/Eugenik für ein biologisch sauberes Volk, seine gutachterliche Befürwortung der Kastration eines Pädophilen, seine spätere Propagierung der Kastration bei "Sexualhandlungen gemeingefährlicher Natur", seine Zusammenarbeit mit dem schwulenfeindlichen Hodentransplantator Eugen Steinach, zu dem er noch 1930 unbeirrbar hielt, die Übernahme der biologistischen Konzepte Ernst Kretschmers zur Identifizierung von Homosexuellen im Volkskörper durch das Hirschfeld-Institut (vor allem durch seinen ärztlichen Leiter Arthur Kronfeld, wovon M leider gar nichts weiß, obwohl er Kronfeld-Schriften anführt) - all die vielen Details über Hirschfelds wahres Wirken sind nicht neu, doch M präsentiert sie als geballte Ladung gegen die heutigen Schönfärber, gegen den Fanclub von Tante Magnesia. Und das ist auch gut so. M's Urteil ist eindeutig, in meinen Worten zusammengefaßt: Als Mediziner - Theoretiker wie Praktiker - war Hirschfeld ein Scharlatan, der nur aufgrund des blinden Glaubens vieler Patienten an ihre Halbgötter in Weiß politisch eine Zeitlang reüssieren konnte, bis er auch auf dem Feld der Juristerei, auf dem er bereits als Gerichtsgutachter das Negativimage der normabweichenden Sexualität als biologisches Defizit und kriminelles Delikt zu erhalten half, die Emanzipationsbewegung in der Frage der Liberalisierung des § 175 gegen Ende der Weimarer Republik endgültig verriet. "Auch wenn es die sexualwissenschaftliche Forschung bislang verneint hat, läßt sich direkt von Hirschfeld der Weg ins Dritte Reich nachzeichnen", kündigt M in der Einleitung an (S. 31). Die Hirschfeld-Kapitel halte ich für die stärksten und wichtigsten in M's Buch, mit einem großen Potential, kritisch auf aktuelle Debatten einzuwirken. Dem tun auch formale Ungereimtheiten (die leider nicht selten sind) wie die folgende keinen Abbruch: Seite 107, Fußnote 59: "Hirschfeld hatte zu Beginn der 1920er Jahre im Falle eines homosexuellen Pädophilen die Kastration befürwortet und diese als Erfolg gewertet." Fußnote 60, selbe Seite: "Im Gegensatz zu Hirschfeld sprach Krahl auch von einem Erfolg bei der Kastration eines homosexuellen Pädophilen."

Gab es also nur Schurken (selbst die Freudianer wollten ja die "Neurose" Homosexualität therapieren)? Liegt es an M's Fragestellung, daß er die Identifikation von Homosexualität mit "Delikt" vom ersten Satz an (S. 9) nicht in Frage stellt? Die suggestive Kraft seiner scheinbar endlos aufgezählten Beispiele läßt M bisweilen sogar die Abwertungen und zweifelhaften Begriffe kritiklos übernehmen: "homosexuelle Verfehlungen" (S. 237/8), "sexuelle Veranlagung" (S. 353), "Frauen zweifelhafter Herkunft" (S. 297) sind Charakterisierungen, die M ohne Anführungszeichen für andere verwendet. Dieses fehlende Bewußtsein vom Gegenstand seiner Arbeit rührt vom vollständigen Mangel an Theorie her, der M's Buch zur neopositivistischen Geschichtsschreibung macht, die Faktum an Faktum reiht und diese Reihe lediglich nach zum Gegenstand sich zufällig verhaltenden zeitlichen und geographischen (Deutschland, Österreich, Schweiz) Abschnitten unterteilt. Deshalb kann man den Inhalt auch nicht vorstellen, ohne gleich alles zu wiederholen. M verschwendet keinen Gedanken an die Frage, wie und warum Homosexualität pathologisiert und kriminalisiert, zum Gegenstand von Psychiatrie und Juristerei wurde; er entwickelt oder kritisiert nicht den oder die verschiedenen Begriffe von Krankheit und Verbrechen, Rechtsphilosophie scheint es für ihn ebensowenig zu geben wie Kritische Medizin. Die gesellschaftliche Bedingtheit und Funktion der Verfolgung von männlicher Homosexualität kommt bei ihm nicht vor. So wird diese Verfolgung durch M als heute schockierende Vergangenheit erzählt: Wie konnten die bloß, damals! Erkenntnis bildet diese Art der Geschichtsschreibung nicht, und deshalb bleibt nach dem Lesen nur die allgemeine Empörung über das Böse in der Welt; aus der langen Reihe der Details, zusammenhanglos erzählt, erinnert man am Ende des Buches kaum noch eins. Zwar zeigt M ausführlich auf, daß diese psychiatrisch-forensische Art der Beschäftigung mit dem nicht übersehbaren Vorkommen von Homosexualität von Anfang an ein Teilgebiet der Rassenhygiene/Eugenik war; doch die Funktion der angestrebten biologischen Höherzüchtung der Individuen (und so des völkischen Kollektivs) in den konkurrierenden hochkapitalistischen Volkswirtschaften nach Einführung der Sozialversicherungssysteme, die die Bedingung der Möglichkeit dieser Homosexualitätsforschung war, wird überhaupt nicht angesprochen. Warum wurde ein Teil des gesellschaftlichen Reichtums nicht für Kaviar und Kanonen ausgegeben sondern für diese Psychiater, Kriminalpsychologen und Gerichtsmediziner? M fragt dies nicht, und sein Hinweis auf die Sorge wilhelminischer Moralisten um verführte Jugendliche wäre so wenig eine Antwort wie die überraschend als Quintessenz in der Zusammenfassung präsentierte Behauptung: "Es ging den rassepolitischen Vordenkern des Nationalsozialismus vornehmlich darum, Homosexuelle als Arbeitskräfte zu sichern" (S. 356), für die es auf den 355 Seiten vorher nur eine einzige Referenz gibt (S. 247), in der die "Hebung der Arbeitsqualität nach erfolgter Heilung" zudem nicht als "vornehmliches", sondern als Nebenergebnis der Psychotherapie angeführt wird. Zu einer Auseinandersetzung mit dem Konzept des Sexualverbrechens (das heute wieder Presse-Konjunktur hat, obwohl die Anzahl sexuell motivierter Straftaten in den vergangenen Jahrzehnten auf ein Viertel geschrumpft ist) kann es so nicht kommen.

Aufgrund seiner mangelnden theoretischen Fundierung erscheinen die zahlreichen Einzelschilderungen M selbst nur als "Zufälle" (S. 356) oder als "Irrweg" (S. 109) der Geschichte, den heute, Gott sei Dank, niemand mehr beschreite. Darum kann er sich auch nur empören darüber, daß Schurke Hirschfeld als Namensgeber der Bundesstiftung für die Naziunrechts-Entschädigung und die Erforschung der Geschichte der Homosexuellen dienen soll (S. 27 f), statt zu begreifen, daß kein anderer als Hirschfeld - von wegen Geschichte! - zum Säulenheiligen der rotgrünen Eugenik-Bioethik-Propaganda taugt, die längst schon mit Argumenten der sexuellen Emanzipationsbewegung arbeitet. Die schwule Fun-Society mag glauben, daß die Repressivität, Lust- und Körperfeindlichkeit, mit der die Biologisten der 20er Jahre (die gleichzeitig ideale Körperbautypen entwarfen) der Sexualität begegneten, nun der Vergangenheit angehörten. Doch ihre Emanzipation findet damals wie heute nur innerhalb der Grenzen der Produktinnovationen statt, als deren Gegenstand in der Waren produzierenden Gesellschaft auch der menschliche Körper herhalten muß. Den wirklichen "Irrweg", der kontinuierlich fortgesetzt wird, klammert M aus.

Sein Buch ist als Materialsammlung durchaus brauchbar. Seine Schlußfolgerungen jedoch sind allzu oft von solcher Qualität: "Zudem stand er offenbar der Sozialdemokratie nahe, da er in der Homosexualität ein Degenerationszeichen der herrschenden Klasse erblickte" (S. 63). Wenigstens wird man nicht so leicht schwul oder Schurke wie Sozialdemokrat.

Peter Kratz


Florian Mildenberger: '... in der Richtung der Homosexualität verdorben' - Psychiater, Kriminalpsychologen und Gerichtsmediziner über männliche Homosexualität 1850 - 1970, MännderschwarmSkript Verlag, Hamburg 2002, 32,00 Euro.
 

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