Peter Kratz: "Rechte Genossen.
Neokonservatismus in der SPD", Einleitung
© 1999 Copyright by Peter Kratz.
Jede Verwendung des Textes  unterliegt dem Urheberrecht.
  
 
0. Einleitung 
"Auch in sich nach außen reputierlich gebenden konservativen Zeitschriften wie 'Mut' oder 'Criticon' haben Unionspolitiker die Grenze zwischen Konservativen und Rechtsextremen längst eingerissen." Das sagte die stellvertretende SPD-Vorsitzende Herta Däubler-Gmelin 1989 in einem Interview. Der Parteivorstand der SPD druckte es in einem Flugblatt "Thema: Rechtsextremismus" ab, als neofaschistische Parteien mit ihrer gemeinschaftstümelnden Ideologie in der beginnenden ökonomischen Krise die ersten Wahlerfolge hatten. Schuldige wurden gesucht und bei CDU und CSU gefunden: Die Union habe nach rechts außen Kontakt gesucht und von dort Argumente übernommen, meinte Däubler-Gmelin. CDU und CSU hätten dadurch das gesellschaftliche Spektrum so weit verschoben, daß Politikkonzepte wieder hoffähig geworden seien, die im Nachkriegsdeutschland bisher nur von den Rechtsextremen vertreten wurden. Im Text des Flugblattes hieß es weiter, zu den "humanen Grundsätzen zählt die Unantastbarkeit des politischen Asyls ebenso wie das kommunale Wahlrecht für Ausländer. Die vernünftigen Teile der CDU/CSU sind aufgefordert, sich zu diesen Prinzipien einer modernen und weltoffenen Gesellschaft zu bekennen und sie in den eigenen Reihen durchzusetzen." (1)  

Sechs Jahre später heißt "modern" für die Sozialdemokratie etwas anderes als Emanzipation. Im März 1995 schrieb der stellvertretende SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine selbst in "MUT".  (2)  Er vertrat hier die neokonservative Gemeinschaftsideologie, die den arbeitenden Menschen Opfer abverlangt, damit die Profite der Unternehmer steigen. "Mehr Kooperation statt Konfrontation" hieß der Artikel. Die beiden Zwischenüberschriften zeigten die Zielrichtung: "Deutschland braucht eine Modernisierungsstrategie" und "Die Investitionskraft der Unternehmen stärken". Es war auch deutlich zu lesen, auf wessen Kosten dies geschehen soll: "Mit moderaten Tarifabschlüssen haben auch die Gewerkschaften ihren Beitrag geleistet. Die Tarifautonomie hat sich 1994 in schwieriger Zeit bewährt. Ich bin sicher, daß die Tarifparteien auch in diesem Jahr zu vernünftigen Abschlüssen kommen werden." Lafontaine breitete in dem Blatt, das im Übergangsfeld zwischen Konservativen und Neofaschisten steht, ein SPD-Regierungsprogramm aus, das die gesamte Gesellschaft den Kapitalinteressen unterstellt: "Innovation, technischer Fortschritt und Qualifikation sind der Schlüssel zur Zukunft unseres Landes. Deshalb müssen Forschung, Entwicklung, Bildung und Wissenschaft wesentlich gestärkt werden. Und sie müssen sich stärker als bisher an der ökonomischen Verwertbarkeit ihrer Arbeit orientieren." Der Profit der Unternehmer ist zum Kriterium sozialdemokratischer Politik geworden, für ihn will Lafontaine sogar ökologische und ökonomische Risiken eingehen: "Ich plädiere auch dafür, daß die Diskussion über Chancen und Risiken neuer Technologien versachlicht wird. Wir brauchen ein neues gesellschaftliches Klima für Innovation und technischen Fortschritt. Wir brauchen in unserem Land eine neue Gründerwelle, eine neue Aufbruchstimmung, einen neuen technologischen Sprung nach vorn. Deshalb hat der Bundesrat beispielsweise bei der Gentechnologie jetzt dabei geholfen, unnötige Hemmnisse abzubauen - ohne daß berechtigte Sicherheitsinteressen zu kurz kommen. Zu einer umfassenden Modernisierungsstrategie gehört, das auch das Innovationspotential des Mittelstandes stärker als bisher genutzt wird. Die Rahmenbedingungen für kleine und mittlere Unternehmen und für Existenzgründer müssen verbessert werden. Wir müssen zum Beispiel neue Wege gehen, um für innovative Unternehmen des Mittelstandes privates Risikokapital zu mobilisieren." 

Lafontaine veröffentlichte dies nicht zufällig in einem Blatt der antidemokratischen und antiegalitären Rechten, denn Teile der Sozialdemokratie verfolgen heute eine Politik der technokratischen Gesellschaftsmodernisierung im Interesse des Kapitals, die offen Anleihen bei dieser Rechten macht. Es ist erschreckend, zu erkennen, daß dabei oftmals die Ideen der Konservativen Revolution Pate stehen, jener Sammlung antirepublikanischer Intellektueller der 20er Jahre, die den Faschismus als Weltanschauung systematisierten und in den Köpfen der Mittel- und Oberschicht, aber auch einiger Fraktionen der Bewegung der Arbeiter und Arbeiterinnen ihrer Zeit, die Machtübergabe an den Faschismus mental vorbereiteten. Während die Spitze der SPD in den 80er Jahren noch vor der geistigen Nähe zu solchen Positionen warnte, geniert sie sich heute nicht mehr vor der Zusammenarbeit mit der "Neuen Rechten", die die Nachfolge der "Weiße-Kragen-Faschisten" der 20er Jahre angetreten hat. Der Heroismus, die Risikobereitschaft, die Technikbegeisterung, und der formierende Antiamerikanismus und Nationalismus der Konservativen Revolution - bisweilen auch ihre antirationale Naturmystik - dienen maßgeblichen Sozialdemokraten heute als ideologischer Überbau für eine Wirtschafts-, Gesellschafts- und Militärpolitik, die noch vor zehn Jahren die Partei gespalten hätte. 

Die Wendepunkte der SPD-Politik waren die Abschaffung des Asylrechts und die Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb des Verteidigungsauftrags des Grundgesetzes. Heute zeigt sich, daß dies keine isolierten politischen Projekte waren, sondern daß sie eine Politik jenseits des rechten Randes der Nachkriegs-Sozialdemokratie ermöglichten, die inzwischen auch die Bereiche der Wohlfahrtsversorgung und des "Sozialen Netzes" ergriffen hat. Lafontaine zeigte in seinem "MUT"-Artikel, daß er auch sein Finanzierungsmodell für diese Politik der technokratischen Modernisierung der Kapitalverwertungsmöglichkeiten bei der extremen Rechten der 20er und frühen 30er Jahre und ihren aktuellen Nachfolgern im Neokonservatismus entliehen hat: "Strengste Ausgabendisziplin auf allen Ebenen. Alle staatlichen Leistungen müssen überprüft werden. Der Staat muß sich auf seine eigentlichen Aufgaben konzentrieren. Da, wo Dienstleistungen von Privaten preisgünstiger angeboten werden, führt an Privatisierung kein Weg vorbei. ... Es muß auch sichergestellt werden, daß die Sozialleistungen auf die wirklich Bedürftigen konzentriert werden." Die Politik der letzten Reichskanzler der Weimarer Republik, Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher, basierte schon auf diesen Prinzipien, die Konservativen Revolutionäre unterstützten sie publizistisch. Es scheint heute so, als ob etliche sozialdemokratische Spitzenpolitiker sich an den Konservativen der frühen 30er Jahren und ihren Vordenkern der 10er und 20er Jahre orientierten; jedenfalls beziehen sie sich oftmals - und teilweise sogar ganz offen und selbstverständlich - auf diese Zeit und ihre Politikkonzepte: vom Sozialabbau über die Hochtechnologie-Modernisierungen bis zur Geostrategie. Einen solchen Plan für den Sozialabbau, wie Lafontaine ihn 1995 in "MUT" präsentierte, kannte man in der Bundesrepublik Deutschland bisher vom Neokonservatismus; derartiges war in den letzten Jahren in der Tat schon öfter in "MUT" oder "Criticon" zu lesen gewesen, bisher jedoch nicht von einem Sozialdemokraten geschrieben. 

Lafontaine mobilisierte hier schließlich auch den Gemeinschaftsgedanken, die Ideologie, nach der alle am selben Strang ziehen: "Unser Land braucht mehr Kooperation statt Konfrontation. Bund und Länder, Arbeitsgeber und Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik, wir alle sind aufgerufen, gemeinsam zu handeln, um die vor uns liegenden Herausforderungen zu bestehen. Wenn dieser gesellschaftliche Konsens bewahrt wird, dann kann unser Land mit Zuversicht in die Zukunft blicken." Man kennt solche Thesen. Es ist die klassische Argumentation des Konservatismus, mit der die Privilegien weniger verteidigt werden gegen die Ansprüche der Vielen. Es sind Argumente zur Formierung der Gesellschaft auf die Interessen der Herrschenden. Die geschichtliche Erfahrung zeigt, daß der Lohn für die Massen in Wahrheit noch immer ausgeblieben ist. Solche Reden werden immer gewaltiger, ihr Heroismus wird immer mehr aufgeblasen, je größer die Opfer sind, die der Mehrheit der Bevölkerung abverlangt werden. Die "Herausforderungen" sind dann am größten, wenn eine aggressive Politik den eigenen Anteil am Weltmarkt vergrößern und internationale Konkurrenten verdrängen soll. Darum geht es heute in der Politik Deutschlands und des deutsch geführten Europa, auch für die Sozialdemokratie: Im Innern zusammenzuhalten, um nach außen in der Triadenkonkurrenz Ostasien-Nordamerika-Europa stark zu sein. 

In der deutschen Sozialdemokratie hat in den letzten Jahren das stattgefunden, was man einen Paradigmenwechsel nennt. Bis Mitte der 80er Jahre waren die Diskussionen innerhalb der SPD und den DGB-Gewerkschaften vom Anliegen der Linken geprägt, die Befreiung des Einzelnen voranzutreiben. Die Emanzipation des Individuums war das Ziel, die Reform der Gesellschaft das Mittel. Der Jugendbewegung der 60er und 70er Jahre, dem wiederaufgelebten marxistischen Denken und den pazifistischen Gefühlen der frühen 80er Jahre war es zu verdanken, daß sich der breite Strom der Linken am alten Ideal der allseitig entwickelten Persönlichkeit orientierte. Die Stimmungslage auf Partei- und Gewerkschaftskongressen, bei Symposien der Friedrich-Ebert-Stiftung oder in Bildungsseminaren spiegelte dies wieder: Sozialdemokratische Politik wollte die gesellschaftlichen Strukturen so verändern, daß möglichst jedes Individuum die Chance hat, diesem Ideal zuzustreben, sich selbst zu verwirklichen, seine Selbstidentität zu finden. Niemand bezweifelte die Grundvoraussetzung dieser Freiheit: die ökonomische Sicherheit des Einzelnen. Aus ihr folgte sowohl die Arbeit am sozialen Netz als auch an den Möglichkeiten zur Mitbestimmung gesellschaftlicher Entwicklungen durch jedes Individuum. Das war die Grundlage für die Attraktivität der Sozialdemokratie seit den gesellschaftlichen Umbrüchen der 60er Jahre. Fast könnte man sagen, aus der Entnazifizierung des Denkens, die sich vor dreißig Jahren erst durchzusetzen begann, folgte die kulturelle Hegemonie einer Politik, die die Lebenschancen des Individuums in den Mittelpunkt stellte. "Mehr Demokratie wagen" - diese bescheidene Parole hatte die Qualität einer emanzipatorischen Botschaft. 

Das hat sich drastisch geändert. Die Stimmungslage ist heute antiemanzipatorisch. Die Sozialdemokratie vertritt gemeinschaftliche Positionen, der Einzelne und die Einzelne zählen nur noch als Teile des Ganzen. Sie haben Pflichten, dann erst Rechte. Das Individuum wird mißtrauisch beäugt, seine Lebenslust wird als Hedonismus verurteilt, sogar sein Lebensrecht reklamieren Sozialdemokraten wieder für die Gemeinschaft: Imperialistische Kriege werden als humanitäre Hilfe ausgegeben, Euthanasie als mitfühlende Sterbehilfe, Zwangsarbeit als republikanischer Dienst des Citoyen. Das Kollektiv wird völkisch abgeschlossen definiert, auf regionaler, nationaler oder europäischer Ebene: Kein soziales Wir, sondern ein ethnisches. Interne Interessensgegensätze verschwinden hinter gemeinschaftlichen Konzepten. Die Rede vom "Standort Deutschland" wirkt moderner als die Parole "Wir sitzen alle in einem Boot" und meint doch dasselbe. Die Gesellschaftsmitglieder werden auf ein Ziel hin formiert, das als gemeinschaftlich ausgegeben wird: Die technokratische Modernisierung der Möglichkeiten, Kapital industriell zu verwerten, wenn man welches hat, Profite auf neue Art zu realisieren, neue Waren der Hochtechnologie zu entwickeln und zu verkaufen. Nicht mehr Emanzipation ist das Ziel sozialdemokratischer Politik, sondern Warenhandel in den Produktfeldern Gen, Atom, Weltraum, Kommunikation. Hier stellen sich "Herausforderungen", und um diese zu bewältigen, darf auch weniger Demokratie durchgesetzt werden. 

An die Stelle des freien und gleichen Individuums im gesellschaftlichen Kontext ist nach dem Paradigmenwechsel die geordnete Gemeinschaft getreten, in der die Ungleichheit dem Wohle des Ganzen dienen soll. Denn Kapital muß beschafft werden, um die Entwicklungen der Hochtechnologie zu finanzieren; dieses Kapital fehlt einer egalitären Politik, die die sozialen Lebensumstände angleichen will, indem sie die Bedingungen für die Schwächeren in der Gesellschaft verbessert. Durch Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und der Sozialleistungen sollen die Subventionen für die Hochtechnologie-Unternehmen finanziert werden, damit Deutschland seine ökonomische Spitzenposition behält. Nur vermittelt über das Kollektiv Region, Nation, Europa soll das Induviduum einen Vorteil erwarten können. Um dies den Benachteiligten nahezubringen, werden gesellschaftliche Formierungskonzepte benötigt, die ihren Ursprung auf der politischen Rechten haben, nicht auf der Linken. 

Die Sozialdemokratie greift heute breit auf solche Konzepte zurück. Man kann es weniger in den großen Parteibeschlüssen nachlesen, die mühsam über Kompromißmehrheiten zustande kommen. Es ist auch nicht so deutlich aus den Schaufensterreden zu hören, die vor den Wahlen die eigene Klientel besänftigen sollen (und die stellen großenteils immer noch die Unterschicht und untere Mittelschicht, wie die vergangenen Wahlen zeigten, bei denen genau diese Schichten vermehrt gar nicht wählten und die Mißerfolge der SPD verursachten). Den Weg zeigen vielmehr kleine Artikel an, auch halb versteckte Äußerungen bei Tagungen von Arbeitskreisen, hier und da ein Buch ohne Massenauflage. Die Namen der Tagungsorte kleiner elitärer Parteizirkel stehen für den Paradigmenwechsel, der in jüngster Zeit und bisweilen brachial von oben gegen große Teile der Parteibasis durchgesetzt werden mußte. Petersberg oder Tutzing verbinden sich heute mehr mit sozialdemokratischer Politik als die Orte, an denen die Parteiprogramme beschlossen wurden. Die konkreten politischen Entscheidungen der letzten Jahre, vor allem die großen Kurswechsel entgegen den Parteitagsbeschlüssen, findet man in Artikeln kleiner Zeitschriften vorbereitet, weniger in den Parteitagsdebatten. 

Die Lektüre solcher Texte erschreckt. Offen berufen sich sozialdemokratische Spitzenpolitiker auf antidemokratische Theoretiker der 20er Jahre, offen gehen sie Bündnisse mit Neofaschisten unserer Tage ein. SPD-Funktionäre wie Tilman Fichter, Referent für Schuldung und Bildung beim Parteivorstand, oder Steffen Reiche, Vorsitzender der brandenburgischen Landespartei, betätigen sich auf unterer Ebene als nationale Agitatoren, die das umsetzen, was im Parteivorstand von den Lobbyisten der Hochtechnologie beschlossen wurde. Dort vertritt Lafontaine die wirtschafts- und finanzpolitischen Grundlagen, er fordert geringere Sozialausgaben und weniger Mitwirkungsmöglichkeiten der Individuen an gesellschaftlich relevanten Entscheidungen. Der stellvertretende SPD-Vorsitzende Wolfgang Thierse hat die Rolle des Gemeinschafts-Ideologen eingenommen, der die Bevölkerung auf die Nation einschwört, während der soziale Zusammenhang zerreißt. Der Chefdenker der SPD, Peter Glotz, verbindet beides: Er wendet den Ethnopluralismus der "Neuen Rechten" und die Geopolitik ihrer Vorgänger so an, daß sie den europäischen Großwirtschaftsraum der Hochtechnologie-Konzerne und deren aggressive Weltmarkt-Politik ideologisch rechtfertigen. 

Es fällt solchen Sozialdemokraten leicht, Ideen der Konservativen Revolution oder der "Neuen Rechten" zu übernehmen, denn sie brauchen nur an frühere sozialdemokratische Konzepte anzuknüpfen, die bisher allerdings jahrzehnelang ein Schattendasein in der Partei und ihrem Umfeld spielten. In der SPD gab es immer schon zwei politische Stränge, einen emanzipatorischen und einen formierenden. Die Parteilinke setzte immer schon auf die Befreiung des Individuums und orientierte sich an den Klassikern des Sozialismus, die Parteirechte dagegen suchte schon seit Ferdinand Lassalle die romantische Heimeligkeit in der nationalen Gemeinschaft und diente sich dem Kapital an, wenn es den sozialen Aufstieg der Unterdrückten mit Hilfe des kollektiven Aufstiegs der Nation versprach. In den Zeiten relativen Wohlstands verfolgte die Partei eine moderate Linie, in der sich beide Stränge wiederfanden. Doch in der wirtschaftlichen Krisenzeit, in der nun auch noch große Mengen Kapital für die Hightech-Subventionen beschafft werden müssen, schlägt sie sich - wie in ihrer Geschichte schon öfter - auf die rechte Seite. 

Die großen Denker der Konservativen Revolution haben sich immer wieder bei sozialdemokratischen Vorläufern bedient, die ihrerseits seit der Jahrhundertwende antiliberale und antisozialistische Konzepte ausarbeiteten, um über eine formierte Volksgemeinschaft zur Weltherrschaft Deutschlands zu gelangen. Die Namen aus der Sozialdemokratie sind teilweise vergessen - zu Unrecht -, wie die von Joseph Bloch, Paul Lensch oder Johannes Plenge. Teilweise werden sie nicht mit den offen antidemokratischen, nationalistischen und kapitalistischen Zielen verbunden - ebenfalls zu Unrecht -, wie bei Friedrich Ebert, Hermann Heller oder Julius Leber. In der offiziellen Lesart wurden z. B. die letztgenannten Politiker bisher als Verteidiger der Demokratie und der Republik hingestellt. Inzwischen aber bezieht sich auch die "Neue Rechte" auf sie - zu Recht -, und bis weit in die SPD hinein dienen sie heute der Rechtfertigung antiemanzipatorischer Politik. Ihre Schattenseiten sind nicht mehr eingebunden, sondern treten offen zutage und zeigen Wirkung. Die Sozialdemokratie müßte heute eigentlich Distanz z. B. zu Ebert suchen, nachdem seine persönliche Kenntnis vom Mordkomplott gegen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aufgrund der neu entdeckten Dokumente hierzu als sehr wahrscheinlich eingeschätzt wird. Doch sie knüpft weiterhin mit Stolz an solche Personen und ihre Politik an, von denen Ebert nur die prominenteste ist. 

So darf man wohl eine Linie aufzeigen, auf der die SPD seit dem Beginn des Jahrhunderts über die Wegscheiden, für die die Daten 1914, 1919, 1932/33, 1989 stehen, immer für die Modernisierung der Kapitalverwertungsmöglichkeiten Partei ergriff, dabei von der großen Mehrheit der Bevölkerung Opfer verlangte und dies mit Konzepten der Konservativen Revolution rechtfertigte. Die Entscheidungen nach rechts hin, die an diesen Wegscheiden getroffen wurden, verschoben immer nur das gesellschaftliche Spektrum nach rechts, historisch profitierte davon niemals die Arbeitnehmerschaft. Diese Linie bestimmt in den 90er Jahren die Sozialdemokratie, die Kategorien der Modernisierung und Formierung sind dabei maßgebend. Es sind die maßgeblichen Kategorien der Konservativen Revolutionäre von Anfang an. 

Hieran anzuknüpfen, erregt auch deshalb kaum Protest, weil die Sozialdemokratie ihre intellektuelle Mitverantwortung am Siegeszug des Faschismus niemals aufgearbeitet hat. Innerparteilich sind die Konservativen Revolutionäre so unbekannt wie die verwandten antiliberalen Positionen der Ebert, Heller oder Leber und wie die sozialdemokratischen Gemeinschafts-Ideologen Bloch, Lensch oder Niekisch. Es scheint so, als habe man eigene nationalistische, volksgemeinschaftliche und rassistische Positionen dieses Jahrhunderts in Archiven versteckt statt im offenen Diskurs kritisiert, um sie bei passender Gelegenheit - in wirtschaftlichen Krisenzeiten - wieder einsetzen zu können. Eine breite Debatte innerhalb der Partei, mit der sich die Mitgliedschaft über die antiemanzipatorische Stoßrichtung der konservativen Zivilisationskritik und der völkischen Gemeinschaftsideologie selbst klar geworden wäre, fand nicht statt. Deshalb ist es leicht möglich, zum antiliberalen, antiegalitären, antirepublikanischen Konservatismus zurückzukehren, der inzwischen entstaubt, renoviert und an die veränderten Erfordernisse am Ende des Jahrhunderts angepaßt wurde. 

Die Sozialdemokratie zu kritisieren, weil in ihren Reihen solche Konzepte übernommen wurden, hat weniger etwas zu tun mit der alten These vom Sozialfaschismus, die schon immer falsch war, weil sie aus der falschen Richtung kam und in die falsche Richtung zeigte. Es hat aber sehr viel damit zu tun, daß auch die Bourgeoisie selbst hin und wieder ihre eigenen Fahnen verbrennt,  (3) wenn die Modernisierung der industriellen Möglichkeiten, aus wenig Kapital mehr zu machen, nur noch gegen die Interessen der Mehrheit realisiert werden kann. Der Antiliberalismus in der Sozialdemokratie ließ sich immer dann mobilisieren, wenn das Kapital ihn brauchte. Gerät erst einmal die alte dialektische Weisheit in Vergessenheit, nach der demokratischer Sozialismus nur auf den Schultern des Liberalismus möglich ist, haben die Ideologen leichtes Spiel, die die Rechte und Bedürfnisse des Individuums hinter einer Gemeinschaft zurückstellen, die man national oder europäisch nennen mag, die aber vor allem nach dem Warenwert funktioniert. 

Es geht nicht um eine neues 1933. Das war schon damals für die Interessen der Herrschenden falsch, wie sich außenpolitisch spätesens ab 1943 herausstellte. Es war auch innenpolitisch falsch, trotz der Existenz einer starken Linken, denn die wäre mit kleineren Kosten niederzuringen gewesen, als es geschah. Die breite gesellschaftliche Strömung der Sozialdemokratie verfolgen zu lassen statt zu umarmen, obwohl ein Teil der Partei 1932/33 förmlich darum flehte, mitmachen zu dürfen, als es galt, die damalige Hightech-Industrie auf Kosten des Sozialen und des Konsums zu subventionieren - dies haben auch diejenigen Konzerne als Fehler des Jahrhunderts erkannt, die dann auf Hitler, Göring und Himmler setzten statt auf Otto Wels, Paul Löbe, Kurt Schumacher, Julius Leber, Karl Höltermann und Theodor Leipart. 

"Wenn wir jetzt nicht regieren, dann ist eines gewiß: Wir werden es 1998 oder früher mit großer Sicherheit." Das sagte Rudolf Scharping am Abend der Bundestagswahl 1994 und verwies so darauf, daß die Neokonservativen in der SPD mit ihrem Programm der technokratischen Modernisierung und nationalen Formierung bereitstehen, sollten die klassischen Konservativen der Kohl-Regierung einmal in die Krise geraten. Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, denn die Interessen der Hightech-Konzerne werden auch von einer SPD-geführten Regierung vertreten, vielleicht sogar besser als von CDU/CSU und FDP. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Hans-Peter Stihl, bescheinigte im März 1995 der baden-württembergischen SPD, ihre Politik sei besser auf die Zukunft der Wirtschaft ausgerichtet als die der CDU. Das Gespräch von SPD-Spitzen mit Wirtschaftsführern über die "Modernisierung des Standortes Deutschland" Anfang 1994 kommentierte die "Kölnische Rundschau" mit dem Satz: "Ein spannender Dialog, der streckenweise durchaus auch auf einem Wirtschaftsforum der Union hätte geführt werden können." So wird Gemeinschaft Wirklichkeit.  (4) 

Die deutsche Politik basiert auf dem ökonomischen Faktum, daß die deutschen Ausfuhren auf den Weltmarkt derzeit schneller wachsen als der Weltmarkt selbst. Diese Situation führte in der Vergangenheit immer wieder zu Krisen und Kriegen, weil Konkurrenten massiv verdrängt werden. Die Zuversicht Scharpings, bald auch formal an der Regierung beteiligt zu sein, hat insofern etwas für sich, weil die Kosten der Modernisierung im Innern und der aggressiven Außenwirtschaftspolitik sich leichter auf die Mehrheit der Bevölkerung verlageren lassen, wenn die Sozialdemokratie die Verantwortung hierfür mitträgt. Die Politik des Burgfriedens von 1914 hat es gezeigt. Ob sich eine Große Koalition in der Zusammensetzung der Bundesregierung niederschlägt oder nicht, ist dabei zweitrangig. Zum einen besteht sie faktisch bereits über den Bundesrat, zum andern verbindet der Neokonservatismus seit dem Ende der 80er Jahre die beiden politischen Lager, die größer sind als SPD und Union, ohnehin. Was Wolfgang Schäuble als Perspektive in seinem Buch "Und der Zukunft zugewandt" niederlegte, schrieben vorher bereits Glotz, Thierse oder Helmut Schmidt ähnlich auf. Helmut Kohls "Rat für Forschung, Technologie und Innovation" ist eigentlich eine Idee von Peter Glotz aus dem Wahlkampf 1994. Thierse stimmte im November 1994 in der Bundestagsdebatte über die Regierungserklärung Kohls der Forschungs- und Technologiepolitik des "Zukunfts-Ministers" und CDU-Rechtsaußen Jürgen Rüttgers ausdrücklich zu. Daß eine faktische Große Koalition auf dieser Basis weiter reichen kann als von schwarz nach rot, zeigt die neue Politik von Bündnis 90/Die Grünen, nicht nur in Nordrhein-Westfalen: Ihre Forderungen nach einer stärkeren Mittelstandsförderung und einer "ökologischen Technologieoffensive" aus dem Berliner Wahlkampf 1995 wird von der Union ebenso vertreten wie von der SPD. Doch ohne Maßnahmen gegen die marktbeherrschende Macht der Finanz- und Industriekonzerne, die keiner der drei im Wahlprogramm hat, profitieren vom großen Sprung nach vorn nur Daimler-Benz, Siemens, Bayer und die Deutsche Bank, die ihre Interessenvertreter längst im Bonner Zukunfts-Rat sitzen haben und hier die Gen- und Atomtechnologie ein wenig ökologisch aufpeppen. Eine rotgrüne Koalition wird trotz der emanzipatorischen Hoffnungen breiter Massen daran kaum etwas ändern, wie das Beispiel der Düsseldorfer Koalitionsvereinbarungen bewiesen hat, jedenfalls nicht ohne Druck von links. 

Etablierte Organisationen der Linken vertreten inzwischen freiwillig die Positionen des Kapitals, das im wesentlichen einer starken extremen Rechten heute - wie es noch 1933 glaubte - gar nicht mehr bedarf. Vielleicht liegt auch hierin ein Grund dafür, daß die extreme Rechte in Deutschland gescheitert ist mit eigenen Organisationen - im Gegensatz zu den europäischen Nachbarn, wo sie horrende Stimmenergebnisse einfahren kann -, daß sie jedoch sehr erfolgreich war, die Mitte der Gesellschaft zu beeinflussen. 

Glotz, Lafontaine, Thierse, aus der zweiten Garnitur Norbert Gansel oder Karsten Voigt, wandeln heute wie selbstverständlich auf der neokonservativen Linie. Sie vertreten bisweilen scheinbar Gegensätzliches und ergänzen sich gerade damit perfekt: Während Lafontaine Sozialabbau fordert, aber von nationaler Duselei nichts wissen will, predigt Thierse den materiellen Verzicht zugunsten vermeintlich wahrer Werte in der nationalen Identität. Glotz stellt sich gegen das Konzept der Nation, weil sein kleinvölkischer Ansatz des Teile-und-herrsche, sein Ethnopluralismus der Regionen, viel besser mit dem europäisch organisierten Großwirtschaftsraum zusammenpaßt. Im Ganzen wird eine Linie daraus. Sie wird im Hintergrund unterstützt von denen, die inzwischen kein linker Flügel mehr bremst: von Helmut Schmidt z. B., der im Wahlkampf 1994 eine zentrale Berater-Rolle spielte, oder von denen, die Willy Brandts Erbe nur noch einseitig nach rechts hin auslegen. Nationalrevolutionäre wie Peter Brandt und sein Anhang, deren völkische Sozialismus-Demagogie in den 70ern nur am Rande oder außerhalb der SPD wirkte, sind heute in ihrer Mitte akzeptiert. Das bewies sogar Scharping, als er Brandts Idee von der "Teilung der Arbeiterklasse" in Kommunisten und Sozialdemokraten aufgriff, die sich in der deutschen Teilung widerspiegele, weshalb die Linke ein eigenständiges Interesse an der nationalen Weidervereinigung habe. Peter Brandt verfocht mit diesem chauvinistischen Unsinn - war die Arbeiterklasse nur in Deutschland geteilt? - in den 80er Jahren die Einheit der Nation. Für Scharping zeugt heute die Existenz der PDS vom heimlichen Fortbestand der deutschen Teilung, der angesichts der staatlichen Einheit nun anachronistisch sei. Die Berechtigung einer linken Organisation wird mit einem nationalen Argument bestritten. 

Die Parteirechte ist hegemonial geworden. Peter Brandt gehörte zu den Stargästen der Konferenz "25 Jahre Juso-Linkswende", die im Dezember 1994 in der Bonner SPD-Zentrale stattfand. Zwar hatte er Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre rein gar nichts zu dieser Linkswende beigetragen, war lange Zeit nicht einmal Mitglied der Partei. Seine ersten politischen Äußerungen, die breite Aufmerksamkeit errangen, waren nationalrevolutionäre Positionen im Gefolge von Ernst Niekisch und Henning Eichberg Anfang der 80er Jahre, zwei Personen, die historisch und aktuell für die Konservative Revolution und die "Neue Rechte" stehen. Doch die neuen Jusos von 1994 wußten nichts davon, daß Brandt an der marxistischen Juso-Phase der 70er Jahre gar keinen Anteil hatte. So fiel es der Parteispitze - Scharping, Wieczorek-Zeul, Glotz und Gansel sprachen neben Brandt - nicht schwer, Brandts völkische Thesen als Juso-Tradition zu verkaufen, als die gute Alternative zu den bösen Marxisten. 

Die Geschichte hat gezeigt, daß es der Linken nichts nutzte, opportunistisch zu taktieren oder sich von den Konservativen umarmen zu lassen. Die Sozialdemokratie ist durch eine Politik, die nach rechts einschwenkte, in Wahrheit niemals zur Macht gekommen. Ihre emanzipatorischen Ziele, die auch heute noch vorhanden sind, konnte sie auf diese Art noch nie verwirklichen. Es gibt keinen Umweg über Rechts nach Links. Auch der Rechtsruck von Petersberg brachte diesen Erfolg nicht, die schlechten Wahlergebnisse von 1994 und 1995 haben die Partei dagegen in eine tiefe Krise gestürzt. Diese Politik bestätigte jeweils nur die konservative Strömung in der Gesellschaft, statt sie zu bekämpfen, und hielt so den Herrschenden den Rücken frei, um noch heftiger gegen die materiellen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung vorgehen zu können, um die Umverteilung des gesellschaftlich erwirtschafteten Wohlstands von unten nach oben noch drastischer zu vollziehen. 

Die SPD hatte nur einmal wirklich die Chance, die Gesellschaft über eine längere Zeit in Regierungsverantwortung mitzugestalten, als die emanzipatorische Grundströmung der Menschen in den 60er und 70er Jahren mit dem Konzerninteresse an der Öffnung der osteuropäischen Märkte zusammentraf. Der Preis für die Führungsrolle war jedoch hoch: Die Linke mußte dauerhaft zurückgedrängt werden, innerparteilich durch spektakuläre Ausschlüsse der Juso-Linken, in der Gesellschaft durch die Berufsverbote. Nachdem der linke Flügel der SPD in den 70er Jahren dennoch einige wenige große emanzipatorische Projekte durchsetzen konnte - die einzigen übrigens: die Fristenlösung beim Paragraphen 218, die Reform des Scheidungsrechts und die Abschaffung der Gewissensprüfung bei der Kriegsdienstverweigerung -, strich das Bundesverfassungsgericht zwei sogleich wieder, zur Genugtuung auch des rechten Flügels der SPD. Lediglich das neue Scheidungsrecht brachte vor allem den Frauen einen enormen und dauerhaften Fortschritt in ihrer Unabhängigkeit. Die Bildungs- und Hochschulreform - einst als Kern der emanzipatorischen Reformpolitik gedacht - war schon rein technokratisch auf die Konzerninteressen ausgerichtet, teilweise wandte sie sich sogar direkt gegen die Interessen der links politisierten Studentenschaft. In der Sozialpolitik scheiterten alle großen Reformprojekte am Widerstand der FDP oder wurden von ihr verwässert, inklusive der flexiblen Altersgrenze, deren Einführung zwar eine große Leistung der SPD-Sozialpolitik war, aber Fragment blieb und heute zur Disposition steht. Die verbesserten Anspruchsrechte auf Krankenversicherungsleistungen waren schon so konzipiert, daß sie einer größeren Wirtschaftskrise nicht standhielten. Schließlich trug die SPD ab 1977 die ersten Sozialkürzungen sogar mit. Das groß angelegte Programm zur Humanisierung des Arbeitslebens verebbte kläglich. Als das Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht für Ausländer und Ausländerinnen wieder abschaffte, nachdem das sozialdemokratisch regierte Schleswig-Holstein es als letztes großes emanzipatorisches Reformprojekt - allerdings nur halbherzig für die Kommunalwahl - eingeführt hatte, atmete sogar ein großer Teil der Partei auf, vor allem die Kommunalpolitiker der SPD-regierten Großstädte, die später die ausländerfeindlichen Kampagnen zur Abschaffung des Asylrechs mit denselben Argumenten betrieben wie die Konservativen. 

Inzwischen gibt es keinen bedeutsamen linken Flügel in der SPD mehr, weder inhaltlich noch zahlenmäßig. Die wenigen Gewerkschafter, die noch der Bundestagsfraktion angehören, folgen den Rechtsauslegern Hermann Rappe, Rudolf Dreßler und Gerd Andres, die die Sozialkürzungen der letzten Jahre für die SPD zustimmungsfähig aushandelten. Vergessen sind die Papiere über einen atomwaffenfreien Korridor zwischen Frankfurt am Main und Leipzig und eine chemiewaffenfreie Zone von Belgien bis Polen, die Mitte der 80er Jahre von einer gemeinsamen Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion und der SED erarbeitet wurden und die zu Recht als wegweisende Etappen zu einer friedlicheren Welt galten. Die offiziellen Broschüren, die auf Titelfotos Karsten Voigt und Egon Bahr stolz und gemeinsam mit SED-Politbüromitglied und ZK-Sekretär Hermann Axen zeigten, sind der Partei heute peinlich, die Protagonisten der damaligen Politik - zehn Jahr nur ist es her - werden heute im SPD-Mitgliedermagazin "Vorwärts" als "weltfremde Linkspazifisten" beschimpft, damit die Mitgliedschaft nur ja nicht auf die Idee komme, hieran anzuknüpfen. 

An die Stelle der Friedenspolitik ist eine Kriegsbeteiligungspolitik getreten, die es nicht mehr als Wahrung deutscher Interessen ansieht, waffenfreie Zonen und "strukturelle Nichtangriffsfähigkeit" herzustellen, sondern deutsche Soldaten in alle Welt zu entsenden, um auf den dortigen Märkten den Einfluß der deutschen Konzerne zu behaupten. Heute geht es um die deutsche Führung in einem Europa "von Brest bis Brest-Litowsk", wie Glotz den Großwirtschaftsraum geopolitisch absteckte. Das ist nicht mit den Ideen der früheren Juso- und Gewerkschafter-Linken zu erreichen, sehr gut aber mit denen der Konservativen Revolution zu rechtfertigen. Von einem "atomwaffenfreien Europa" spricht niemand mehr, im Gegenteil: Beim Blick auf die "Südflanke" - die sich industrialisierenden und bewaffnenden islamischen Staaten - sind auch SPD-Politiker dankbar dafür, daß das deutsch geführte Europa eigene nukleare Abschreckungswaffen aus französischer und britischer Produktion besitzt. An eine "Entmilitarisierung" gar, die z. B. der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer in den 80er Jahren forderte, wagt niemand auch nur zu denken. Statt dessen exportiert auch die deutsche Rüstungsindustrie, an deren Spitze bisweilen wirtschaftspolitische Berater der SPD stehen, wie ein Weltmeister, und der frühere Friedenspolitiker Scheer wandelt sich zu einem Hochtechnologie-Lobbyisten der Energie- und Elektrowirtschaft, der auf internationalen Klimakonferenzen die Weltmärkte für deutsche Solarzellen fest im Blick hält.  (5) 

Scharping wollte 1995 einen Wirtschaftsrat der SPD einrichten und setzte dabei auf die Hilfe des langjährigen Daimler-Benz-Chefs Edzard Reuter und des langjährigen IBM-Chefs und jetzigen Präsidenten des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel. Die beiden haben nicht nur Erfahrung in brachialer Sanierung ihrer Unternehmen auf Kosten der Beschäftigten. Sie decken auch fast schon die wichtigsten Sparten der Wachstums-, Export- und Hochtechnologie-Industrien ab: den Verkehrs- und den elektronischen Kommunikationsbereich, die zugleich Weltraum- und Rüstungsindustrien sind. Die SPD habe "auch in der Wirtschaft hervorragende Leute", sagte Scharping schon Anfang 1994 der "Bild-Zeitung" mit Blick auf die innerparteiliche Lobbyisten-Riege, "Karl Otto Pöhl, Edzard Reuter, Manfred Lahnstein und viele andere." Während der frühere Chef der Bundesbank Pöhl sich heute für eine Privatbank engagiert, sitzt Helmut Schmidts früherer Finanzminister Lahnstein im Vorstand des Medienkonzerns Bertelsmann. Auch andere Ex-Minister der Partei, wie Volker Hauff (Forschungs- und Technologieminister unter Schmidt) oder Alfons Pawelczyk (Innensenator in Hamburg), Spitzenpolitiker wie Bodo Hombach (ein enger Mitarbeiter von Johannes Rau) oder Helmut Wieczorek (Vorstandsmitglied der Bundestagsfraktion) wechseln als Lobbyisten zwischen den Chefetagen der Konzerne und ihren Parteiämtern hin und her. Die Verzahnung der Sozialdemokratie mit der Kapitalseite hat Folgen für die Mehrheit der Bevölkerung. "Es steht für mich außer Frage", sagte Reuter 1994 dem "Spiegel", "daß in den ersten 100 Tagen eine neue Regierung einige sehr unangenehme Dinge präsentieren muß. ... Möglicherweise hat nur eine Große Koalition die Kraft, die harten Aufgaben der nächsten vier Jahre zu bewältigen." (6) 

Die Europa- und Weltstrategien des deutschen Kapitals haben eine neue Qualität erreicht, denn sie werden fast uneingeschränkt von der Sozialdemokratie unterstützt. Wurde die Forderung, den Gürtel enger zu schnallen, damit Daimler-Benz, Siemens oder die Chemie-Konzerne auf dem Weltmarkt die Nase vorn haben können, historisch in Europa von den verschiedenen Fraktionen des Faschismus durchgesetzt, gegen den Widerstand der Linken, so erledigen heute SPD-Politiker diese Arbeit, Widerstand gibt es kaum. Diese neue Qualität macht eine faschistische Entwicklung, wie sie historisch bekannt ist, auf der Basis von Terror und Weltkrieg, offenbar entbehrlich. Ja, sie ist sogar kontraproduktiv; sanfte Formierungsstrategien, die auch die Sozialdemokratie historisch bereits mehrfach anbot, könnten weitaus kostengünstiger sein, so lehrt es der Ausgang des Faschismus. 

Die "heile Welt einer ideologiefreien Eliteherrschaft" sah Jürgen Habermas 1982 bei den US-amerikanischen Neokonservativen als visionäres Ziel ihrer Politik. Sein Artikel über die Kulturkritik des Neokonservatismus erschien damals in der sozialdemokratischen Theoriezeitschrift "Die Neue Gesellschaft". Ihm schloß sich eine Diskussion an, in der der Ideologe der "Formierten Gesellschaft" der 60er Jahre, der konservative Publizist Rüdiger Altmann, feststellte, die neokonservativen Ideen hätten breit an Zustimmung gewonnen: "Ich glaube, daß in der Sozialdemokratie eine ganze Reihe von Leuten sind, die das ähnlich sehen und trotzdem echte Sozialdemokraten sind." Altmann wußte um die Formierungskonzepte aus hundert Jahren Sozialdemokratie. So wie Habermas das neokonservative Weltbild beschrieb, erscheint heute die Politik des maßgeblichen Teils der Sozialdemokraten, nach dreizehn Jahren geistig-moralischer Wende auch auf der Linken: "Die neokonservativ gewordenen Liberalen sind von dem angeblichen Autoritätsverlust der tragenden Institutionen, insbesondere des politischen Systems, beunruhigt. Dieses Phänomen wird unter Stichworten wie Unregierbarkeit, Vertrauensschwund, Legitimitätsverlust und so weiter suggestiv dargestellt. Die Erklärung setzt dann bei einer 'Inflation' von Erwartungen und Ansprüchen ein, die durch Parteienkonkurrenz, Massenmedien, Verbandspluralismus etc. angetrieben wird. Dieser Erwartungsdruck der Bürger 'explodiert' in einer drastischen Erweiterung des staatlichen Aufgabenvolumens. Die Steuerungsinstrumente der Verwaltung werden dadurch überlastet. ... Die Vorschläge zur Therapie ergeben sich aus dieser Analyse. Die staatlichen Bürokratien bedürfen der Entlastung. Dem dient die Rückverlagerung der Probleme, die die öffentlichen Haushalte belasten, vom Staat auf den Markt. Da gleichzeitig die Investitionstätigkeit gefördert werden soll, muß sich die Reduktion des Aufgabenvolumens auf die staatlichen Sozialleistungen, die konsumptiven Ausgaben überhaupt erstrecken." 

Habermas wies damals auf die Renaissance der Neokonservatismus auch in Deutschland hin, die sich teilweise nach amerikanischem Vorbild vollziehe, aber nicht aus einer Abkehr vom eigenen Liberalismus gespeist sei, sondern von der Tradition der historischen Konservativen Revolution anti-westlich beeinflußt werde. Er benannte sie noch mit dem Begriff "Jungkonservatismus". Den Neokonservatismus betrachtete er hier als hauptsächlich kulturelles Phänomen und übersah dabei, daß die US-amerikanische Variante aus einer hegemonialen Volkswirtschaft kommt, zu der das deutsch geführte Europa in Konkurrenz steht. Deshalb gibt es einen fast unlösbaren Widerspruch im europäischen Neokonservatismus, der darin besteht, daß er durch Modernisierungen die geschmähten "Amerikanismen" übernehmen muß, um überhaupt eine konkurrenzfähige Ökonomie zuwege zu bringen. In der Kulturkritik aber müssen die "Amerikanismen" formierend als uneuropäisch oder gar undeutsch bekämpft werden, um den äußeren Feind auf dem Weltmarkt zu konstruieren und auf dem Binnenmarkt dessen Produkte, so gut es noch geht, abzuwehren. Nachahmung und Abgrenzung heißt das Dilemma des Neokonservatismus, auch in seiner sozialdemokratischen Variante. So hieß es schon zu den Zeiten, als ihm das "Neo" noch fehlte und er schließlich in die Modernisierungsbewegung des Faschismus mündete. (7)  

Die bürgerlichen Autoren, die sich jüngst damit befaßten, wie breit der Neokonservatismus inzwischen etabliert ist, zeichnen oftmals ein falsches Bild ihres Objektes. Weil sie ihn nur als kulturelles Phänomen betrachten, sehen sie weder sein Dilemma noch seinen modernen Charakter. Der Neokonservatismus erscheint bei ihnen als antiquiert und muffig, dem offenen Lebensstil zum Ende des Jahrhunderts gegenüber ablehnend eingestellt. Mit diesem Vorurteil finden sie auch keinen Zugang dazu, daß er die Sozialdemokratie infiltrieren konnte, die doch ein moderneres Image hat als die klassischen Konservativen, z. B. in den Unionsparteien. Wer die Modernisierungsdebatte ausblendet, die schon zum historischen Faschismus und zur Konservativen Revolution geführt wurde, versteht kaum, daß der Neokonservatismus heute den Kapitalinteressen der Hochtechnologie-Konzerne entspricht statt widerspricht, daß also gerade die angeblich modernen Produktlinien der kapitalistischen Wirtschaft, die den modernen Lebensstil mit verursachen, ohne konservative Gesellschaftsformierung nicht auskommen. Mark Terkessidis z. B. beschreibt in seinem Buch "Kulturkampf. Volk, Nation, der Westen und die Neue Rechte" lediglich einen Intellektuellenstreit, der eigentlich niemanden anzugehen scheint, erst recht nicht die breite Masse der Bevölkerung. Schenkt man seinem Buch glauben, so hat der "Kulturkampf" zwischen "dem Westen" und einem Europa, das das eigene Völkische als Gegensatz betont, mit Ökonomie und kapitalistischer Warenwirtschaft nichts zu tun. Richard Herzinger und Hannes Stein können in ihrem forsch zusammengeschriebenen rororo-Bändchen "Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler. Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte" nicht verstehen, wie Ethnopluralismus und Hochtechnologie zusammengehen. Daß sie alle die Arbeiten eines Peter Glotz nicht unter die Kategorie "Neue Rechte" zu fassen vermögen, liegt vor allem an ihrer Weigerung, die ökonomischen Gesetze des kapitalistischen Weltmarktes als die materielle Grundlage des Neokonservatismus zu sehen. "Anti-westlich" kann aber immer nur eine Hilfskategorie sein, denn es gibt diese Verbindung in der Wirklichkeit: Modernisierung der Kapitalverwertungsmöglichkeiten - Sozialabbau - nationale Formierung. Sie läßt sich heute auch in der Sozialdemokratie an Personen und den von ihnen vertretenen Inhalten aufzeigen. Davon handelt das vorliegende Buch.  (8) 

...weiter im Text 

...Inhalt "Rechte Genossen" 

...Eingangsseite 
  

Anmerkungen: 
(Zurück zur Stelle der Anmerkung im Text über den "Zurück"-Button Ihres Browsers.) 

(1) "Thema: Rechtsextremismus", sechsseitiges Flugblatt, hrsgg. vom SPD-Parteivorstand, Bonn o. J. (1989). 
(2) Lafontaine, O.: Mehr Kooperation statt Konfrontation, in: "MUT" Nr. 331, März 1995. 
"MUT" hatte der Mitbegründer der "Aktion Widerstand" gegen die SPD/FDP-Ostpolitik (Parole 1970: "Willy Brandt an die Wand!") und NPD-Bundestagskandidat von 1972, Bernhard C. Wintzek, schon 1965 als militantes Neonazi-Blättchen gegründet. Die Zeitschrift war im Januar 1979 wegen antisemitischer Ausfälle und Verbreitens der "Auschwitz-Lüge" indiziert worden. Wintzek hatte sie in den 80er Jahren zu einem Hochglanz-Periodikum im Übergangsfeld von Konservatismus und Neofaschismus umgewandelt und ist bis heute ihr Chefredakteur. Die Kontinuität seit der Gründung beweist er durch eine fortlaufende Nummerierung der Hefte. Die "MUT"-Ausgabe mit dem Lafontaine-Beitrag trägt die Nummer 331. 
(3) Ein Ausdruck des verstorbenen Faschismus-Forschers 
Hartmut Meyer. 
(4) Stihl nach "FAZ" 11. 3. 1995. 
"Kölnische Rundschau" 1. 2. 1994. 
(5) Fotos mit Axen usw.: SPD-Parteivorstand: Grundsätze für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa, "Politik", Nr. 19, November 1986; ders.: Chemische Abrüstung. Modell für eine chemiewaffenfreie Zone in Europa, "Politik", Nr. 6, Juli 1985. 
H. Scheer: Vom 'Wandel durch Annäherung' zur 'Annäherung urch Wandel', Vortrag auf dem SPÖ-Kongreß Perspektiven '90 "Die Zukunft der internationalen Politik" in Wien, hekt., Bonn o. J. 
(6) Schraping-Interview in "Bild-Zeitung" 1. 2. 1994. 
Reuter-Interview in "Der Spiegel" Nr. 35/1994. 
(7) J. Habermas: Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik, in: "Die Neue Gesellschaft", 1982, S. 1024-1033. 
Habermas verstand allerdings damals den Zusammenhang von konservativer Zivilisationskritik, die sich in der Forderung nach "geistig-moralischer Erneuerung" und in gesellschaftlichen Formierungsbestrebungen niederschlägt, zur Modernisierungspolitik nicht, auch schien er ihn bei der historischen Konservativen Revolution nicht verstanden zu haben, der er eine "halbherzige Aussöhnung mit der Moderne" nach 1945 andichtete. Wir haben die Zusammenhänge in dem Buch "Die Götter des New Age. Im Schnittpunkt von 'Neuem Denken', Faschismus und Romantik", Berlin 1994, aus einem anderen Blickwinkel untersucht und festgestellt, daß beide - die romantizistische Zivilisationskritik und die faustische Gesellschaftsmodernisierung - zwei Seiten derselben Münze sind. 
(8) Terkessidis, M.: Kulturkampf, Köln 1995. 
Herzinger, R. und H. Stein: Endzeit-Propheten oder Die Offensive der Antiwestler, Reinbek 1995. 

...weiter im Text 

...Inhalt "Rechte Genossen" 

...Eingangsseite