Peter Kratz: "Die Götter des New Age.
Im Schnittpunkt von 'Neuem Denken', Faschismus und Romantik"
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6. Die Sainte-Chapelle des New Age

Mit der Pyramide zur Weltmacht.
Eine Spekulation über Parallelen.



Die Gotik ist ein zentraler Bezugspunkt der europäischen Rechten von der Romantik über die völkische Bewegung, die Konservative Revolution, den Faschismus an der Macht bis hin zur "Neuen Rechten" und den nationalrevolutionären Nachfolgern der faschistischen Strasser-Linie (Position des Dritten Weges). Der idealisierte Rückgriff auf die gotische Gesellschaft als der kosmischen Harmonie angeblich am nächsten kommend findet sich aber auch breit im New Age. Das kurz vor seinem Ende stehende Mittelalter erscheint hier als ein kultureller Höhepunkt, auf dem der Zusammenfall von weltlicher und spiritueller Macht, der relative Wohlstand auf der Basis der ritterlichen Lehensverfassung, die die bäuerlichen Massen einbindet, des zunftgebundenen Handwerkertums und des beginnenden Kolonialismus im Nahen Osten und auf dem Baltikum, und die Blüte von Wissenschaft und Technik mit der Hinwendung zu einer "ganzheitlich"-pantheistischen Interpretation des Christentums zu einer bisher nicht gekannten Leistungsfähigkeit zu führen scheinen. In Wahrheit herrschen zu dieser Zeit in Europa und den europäischen Einflußgebieten Asiens und Afrikas Hunger und Seuchen, landesherrliche Willkür und Sklavenhaltertum, ständige Eroberungskriege, Mystizismus und eine Besessenheit von Wahnideen, die in Deutschland und Frankreich in den Massentod der Kinderkreuzzüge mündet. Die Spiritualität dient dem Imperialismus, der vorgibt, mit den Kreuzzügen das Heilige Grab in Jerusalem vom Islam befreien zu wollen, aber den Besitz über die materiellen Güter des Nahen Ostens und Nordafrikas sowie die Kontrolle der Handelswege meint, die in arabischer Hand sind. Der gotische Staat ist streng hierarchisch und ständisch aufgebaut, so wie ihn die Romantiker auch aus den indischen Veden herauslesen wollten (vgl. Kap. 2 u. 3). Die Masse der Menschen darf über ihre Lebensbedingungen nicht bestimmen. Faschistische Staatskonzeptionen wie die von Othmar Spann oder Otto Strasser orientierten sich an der Staatsverfassung des gotischen Zeitalters, die für sie Vorbildcharakter hatte. Die Macht der Herrschenden im Spätmittelalter basiert auf der Verbindung von Spiritualität und Politik und findet ihren Ausdruck in der Lehenspyramide, die nach der hierarchischen Ordnung des Ganzen in Unterganze als Teile aufgebaut ist. Die Macht der Herrschenden des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, deren Kaiser sich im 13. Jahrhundert ein weiteres Mal als auch religiöse Herrscher über den Papst aufschwingen wollen und gleichzeitig den Regionalfürsten weiteste Freiheit lassen, ist fast universal, sie reicht vom Baltikum bis nach Ägypten und wird nur vom französischen Adel und Königtum gefährdet. Das Reich deutscher Nation und Frankreich begeben sich mit immer neuen Kreuzzügen in einen Wettlauf um die frühkoloniale Herrschaft über Teile des Orients bzw. um Stützpunkte dort, die den Handel absichern und vor Konkurrenz schützen sollen.

Der Staufer-Kaiser Friedrich II., eines der herausragenden Vorbilder des deutschen Faschismus, krönt sich dort, wo dem spirituellen König der Juden die Dornenkrone aufgesetzt wurde, selbst zum König von Jerusalem. Er ist von seiner Persönlichkeit her durch und durch ein Heroischer Realist und wird wegen seines spirituellen Machtanspruchs - das Geschlecht der Staufer ist seiner Meinung nach selbst göttlich - vom Papst exkommuniziert. Bei seiner Selbstkrönung in Jerusalem ist er nur noch im geistlichen Beistand des Deutschritterordens, der von Reval bis vor Kairo die Kolonialpolitik des deutschen Reiches betreibt. Zu den Zeiten des auf politischer Ebene durchgehend materialistisch agierenden Friedrich II. wird von den mitteleuropäischen Rittern - weit ab vom angeblichen Ziel der Kreuzzüge - um das fruchtbare Nil-Delta gekämpft, dessen Eroberung zugleich die Unterwerfung des bedeutendsten Zentrums des Islam (Kairo) und in der Folge des einzigen überhaupt ernsthaft erwachsenden Gegners der Herrschenden Europas bedeutet hätte und damit auch den ungehinderten Zugang des europäischen Handels in den mittleren und fernen Osten. Doch auch der Beistand des Naturmystikers Franz von Assisi - ein sehr praktisch-politischer Mensch, der nicht nur spinnert mit den Tieren spricht -, der sich auf seiten der Ritter an der Front aufhält und schließlich persönlich mit dem ägyptischen Sultan verhandelt, kann diesen ersten Anlauf des europäischen Kolonialismus nicht retten, der 1291 mit der Vertreibung der Kreuzritter aus Palästina sein Ende findet.

Diese hohe Zeit des imperialistischen Rittertums wird vom (Neo-) Faschismus und seinen Vorläufern stilisiert, erst recht, als sich die weltlich-geistliche Herrschaft der aus Palästina zurückgekehrten Deutschritter über das Baltikum zur Legitimierung des "Lebensraumes im Osten" bzw. des Kampfes gegen die dort entstehenden Räterepubliken nutzen läßt. Viele Freikorpskämpfer der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, die in der faschistischen Internationale des Ludendorff-Kreises kämpfen, sehen sich in der Nachfolge der Deutschritter, diesmal gegen den "jüdischen Weltbolschewismus". Die Darstellung wehrhafter Ritter, mal mit, mal ohne Hakenkreuz auf dem Schild, gehört zu den Grundthemen völkisch-bewegter und faschistischer Gebrauchsgraphik seit der letzten Jahrhundertwende. Zahlreiche Gemälde und Zeichnungen aus dem historischen Faschismus zeigen Adolf Hitler als mittelalterlichen Ritter, der den Bestand des Reiches schützt und garantiert; militant-neonazistische Gruppen aus verschiedenen Staaten Europas setzen auch heute auf die Wirkung der Ritterdarstellung. Die nazistische "Deutsche Glaubensbewegung" Wilhelm Hauers sei "gelebte Gotik" gewesen, meint die nationalrevolutionäre Zeitschrift "Aufbruch" um den Ideologen und ehemaligen REP-Funktionär Marcus Bauer im August 1988. "Der sizilische Staufer Friedrich", so heißt es in der vom "Reichsjugendführer" der NSDAP Baldur von Schirach herausgegebenen Schrift "Der Führer. Das Weihnachtsbuch der deutschen Jugend" (München 1938, S. 5), "vor dem die Könige Frankreichs und Englands knieten, zu dem sich die Fürsten drängten, der Allbeherrscher und Beauftragte des Himmels, wie er sich nannte, verkannt von den Späteren und in der legendenhaften weltgeistigen Höhe seiner Erhabenheit kaum seinem Volk vertraut, war bereits dem Himmel näher als der Erde" - ein wahrer Führer der Deutschen also. Sigrid Hunke singt endlose Lobeshymnen auf diesen Kaiser und sein Weltreich, das so ausgedehnt war wie keines mehr danach. In ihren Büchern "Allahs Sonne über dem Abendland" (Stuttgart 1960; unter Bezug auf das Buch des SS-Rassepsychologen und Doktorvater Hunkes, L. F. Clauß, "Semiten der Wüste unter sich" von 1937) und "Kamele auf dem Kaisermantel" (Stuttgart 1976) beschwört sie die deutsch-arabische Freundschaft auf der Basis der Politik Friedrichs II., der in Palermo von Arabern erzogen wurde (und von Juden, die aber unterschlagen die faschistischen IdeologInnen ebenso wie des Kaisers Vorliebe für den Sohn seines arabischen Hauslehrers, mit dem er das Bett teilte) und dessen Kaisermantel zwei gestickte Kamele schmückten - es ist derselbe Kaisermantel, mit dem die "Nationalsozialistischen Monatshefte" die antisemitische und antibritische nazi-arabische Freundschaft der 30er und 40er Jahre umhüllten. Ein letzter Hunke-Neuaufguß ("Allah ist ganz anders", Rosenheim 1990) machte als Taschenbuch während des Zweiten Golfkriegs 1991 auch innerhalb der Friedensbewegung Furore - daß hier eigentlich die Zeit der kriegerisch-imperialistischen Kreuzzüge das Vorbild abgibt, hatte man wohl nicht im Bewußtsein. Hunke hält Friedrich II. ausdrücklich für einen Vordenker von "Europas eigener Religion" (1969, S. 532).

Als die dauerhafte Eroberung des realen Jerusalem scheitert, wird in der mittelalterlichen Mystik diese Idee immer mehr entwirklicht. Das "dritte Reich" des Joachim von Fiore als Herrschaft des Heiligen Geistes, das "innere Reich" des Meister Eckehart als Herrschaft Gottes im Nordeuropäer und in seinen Taten ist ein geistiges, ein spirituelles Jerusalem, das es zuerst in sich zu erobern gilt. Gleichzeitig ist die Mystifizierung "Jerusalems" weiterhin Antrieb zur (außen-) politischen Tat, der erst durch die Pest im 14. Jahrhundert und die einsetzende Spaltung des mitteleuropäischen Christentums Einhalt geboten wird: man hat nun mit dem innereuropäischen Machterhalt alle Hände voll zu tun. Nachdem dann das "Neue Reich" im neu entdeckten Amerika gesucht wird, kommen die mittelalterlichen Vorstellungen erst wieder in der Romantik zum Tragen, als eine organizistische Gegenbewegung gegen die bürgerlichen Freiheitsbestrebungen gesucht wird. Die Idee des "Neuen Jerusalem" findet sich heute breit und explizit im New Age als Beschreibung des Gewollten und als Anknüpfung an die mittelalterliche Ideologie. Schorsch (1988, S. 137 ff) weist darauf hin, daß New Age-Größen wie George Trevelyan sich auf diesen Mythos "Jerusalem" beziehen. Auch Rudolf Bahro (1987, S. 195) führt das "innere Jerusalem" als den Zielpunkt der "Rettung" an. Hier soll die kosmische Harmonie herrschen, die selbst und durch die Herrschaft der Naturgesetze Pracht und Glanz gibt. Wie sehr dies auch spirituell gedacht sein mag, die Herrschaft der kosmischen Gesetze ist eine sehr materielle, unfreie, ungleiche und unsolidarische, davon kann man sich tatsächlich jederzeit in der Natur überzeugen. Und so, wie das mittelalterliche "innere Jerusalem" sehr materiellen Interessen der Herrschenden diente, so hat auch die Anknüpfung des New Age an den alten Mythos sehr irdische, sehr politische Folgen - und dies keineswegs im Interesse der Massen.

Nach Friedrich II., dem von Arabern erzogenen Staufer-Kaiser, der mit seinem Kreuzzug das wirkliche Königreich Jerusalem kurzzeitig wiederbelebt und über seine Freundschaft mit dem ägyptischen Sultan einen Teil des Handels unter die Herrschaft des deutschen Kaiserreiches bringt, führt der König von Frankreich, Ludwig IX., mit dem Beinamen "der Heilige", seinen "Kreuzzug" 1248 der Einfachheit halber direkt ins Nil-Delta, wo zwar kein Heiliges Grab, aber unermeßlicher Reichtum lockt. Er hat zahlreiche Techniker und Ingenieure mitgebracht, die hier Brücken und Dämme für die vorrückenden Ritter und die ebenfalls in des Königs Begleitung angereisten Kaufleute bauen. Man kann sich einige Zeit festsetzen, doch müssen die Franzosen, wie schon ihre deutschen Vorgänger, sich schließlich wieder in die Reste des Königreichs Jerusalem zurückziehen.

Der heilige König steht bereits seit längerem in Konkurrenz zum deutschen Kaiser, dem er den ersten Rang in Europa abzujagen versucht, wegen der Ehre für Ludwig und Frankreich, aber selbstverständlich zuerst wegen dem Ausbau des agrarischen Potentials und der Verfügung über Rohstoffquellen und Handelswege, die den materiellen Inhalt der flüchtigen Vorstellung von der Ehre ausmachen. Schon 1237 ist es ihm gelungen, dem Herrscher des von Kreuzfahrern gegründeten Lateinischen Kaiserreichs von Konstantinopel für eine unvorstellbare Summe Geldes die angebliche Dornenkrone Christi abzukaufen. Wenn er schon nicht König von Jerusalem sein kann, weil dies bereits der deutsche Kaiser ist, dann will der wenigstens die Krone dessen besitzen, der als "Rex Judaeorum" unbezweifelbar über dem Kaiser steht. Mit Hilfe des Besitzes dieser höchsten Reliquie der Christenheit, die ganz profan in Venedig als Pfand des zahlungssäumigen Konstantinopel für die adriatische Händlerrepublik aufbewahrt wird, will Ludwig IX. seinen Anspruch als erster Herrscher in Europa dokumentieren. Für die Gläubigen nebenbei, in Wirklichkeit aber doch wohl eher als Hauptgrund der Transaktion, macht Ludwig durch die Schuldenübernahme den ökonomischen Einfluß Frankreichs in Venedig und Konstantinopel geltend, in den beiden wichtigen Zentren für den Mittel- und Fernosthandel also. Bereits seit einiger Zeit werden, von Nordfrankreich ausgehend, als Prestigeobjekte zur Dokumentation der Wirtschaftsmacht die gotischen Kathedralen erbaut, für deren Errichtung die bäuerlichen Massen schuften und hungern. (X01) Die Städte versuchen, sich gegenseitig mit diesen Bauten zu überbieten, scheitern jedoch oft an technischen und finanziellen Schwierigkeiten. In der nachromantischen neogotischen Phase des 19. Jahrhunderts, insbesondere zur Dokumentation des Machtanspruchs des preußischen Kapitals und der Hohenzollern, werden die seit Jahrhunderten ruhenden Kathedralenprojekte der deutschen Gotik wie das Ulmer Münster und vor allem der Kölner Dom als Zeichen der Einheit des neuen - kapitalistischen - deutschen Reiches fertiggestellt. Die Anknüpfung an den Glanz und Machtanspruch mittelalterlicher Weltherrschaft ist beabsichtigt, auch als ein paar Jahrzehnte später Alfred Rosenberg in seinem "Mythus des 20. Jahrunderts" - nach dem breiten Bezug auf Meister Eckehart - dem gotischen Baustil einige Kapitel widmet.

Die Kathedralen sind im 13. und 14. Jahrhundert als ein Abbild des himmlischen Jerusalem gedacht, dessen irdisches Original gerade so sehr im Mittelpunkt materieller Eroberungsinteressen steht. Sie sind Herrschaftsarchitektur ihrer Zeit und dienen dazu, neben der innenpolitischen Stabilisierung - die durch die spirituelle Legitimierung der Lehenspyramide erzielt wird - auch die immensen Kosten des Kreuzritter-Imperialismus zu begründen. Wer in seiner Stadt ein Abbild des himmlischen Jerusalem als gotische Kathedrale stehen hat, in deren weitläufigem Inneren auch noch - so wurde damals üblicherweise und ganz real die Einheit von Geist und Materie hergestellt - Großmärkte abgehalten und weltliche Amtshandlungen vollzogen werden, kann sich kaum den Appellen entziehen, die Kreuzzüge wenigstens durch Spenden oder durch die Hergabe eines Sohnes zu unterstützen. Die großen gotischen Architekten sehen sich als Sachwalter des Kosmos, dessen Naturgesetze sie anwenden, damit ihre Abbilder des Himmels nicht mangels Statik in sich zusammenbrechen. Die pantheistischen Ideen, die Meister Eckehart wenig später so genial auszudrücken vermag, bestimmen ihre Zuversicht, den Himmel auf Erden als technisches Gebäude darzustellen. Die Baumeister sind in ihrer Weise faustisch, d. h. naturmystisch-technisch (auch wenn die Naturmystik in christlichem Gewande erscheint), und oftmals halten sich angesichts ihrer Probleme mit der Statik die Wahnvorstellungen, sie seinen tatsächlich mit dem Teufel im Bunde.

Ludwig IX. läßt als Aufbewahrungsort der höchsten Reliquie der Christenheit, die er in Venedig auslöst und mit nach Paris nimmt, das großartigste bis dahin gesehene gotische Bauwerk errichten, die Sainte-Chapelle. Die Kirche erscheint als fast nur aus Glas gebaut und ist eine lange Zeit unwiederholbare technische Meisterleistung, die dennoch nur ein Drittel dessen kostet, was Ludwig - oder vielmehr die von ihm ausgeplünderten Franzosen - für die angebliche Dornenkrone bezahlt. Das Ziel des gotischen Stils, eine Architektur zu realisieren, die entmaterialisiert wirkt und dadurch den Himmel auf die Erde holt, ist hier in höchster Vollendung erreicht. Jerusalem, wo die geglaubte Einheit von Mensch und Gott im dornengekrönten Christus die Passion erlitt und durch mystische Einheit von Tod und Leben die Hoffnung der Menschheit erneuerte, ist mitten in Paris, auf der Ile de Cité und als Hofkirche des Königs, neu und für lange konkurrenzlos erstanden. Der besondere Reiz der Sainte-Chapelle sind ihre menschlichen Ausmaße im Unterschied zu den gewaltigen Kathedralen, die in Nordfrankreich bereits gebaut sind. Der gerade zwanzig Meter hohe Hauptraum will zugleich durch die Flut des farbigen Lichts - einer Erscheinungsform Gottes, wie man damals über das Licht glaubt - mystisch entrücken ins bessere Jenseits und läßt doch das Himmelreich menschlich und daher erreichbar erscheinen, beides Voraussetzungen einer Ideologie der Tat, die der mittelalterliche Imperialismus nötig braucht.

In der Sainte-Chapelle Ludwigs IX. auf der Ile de Cité in Paris:
Die materialisierte Vision vom "Jerusalem" wird von innen deulich.

Kaum ist die Sainte-Chapelle 1248 fertiggestellt, macht sich Ludwig noch im selben Jahr zu seinem "Kreuzzug" auf - nach Ägypten, denn was kümmert ihn Jerusalem, was kümmert ihn das Heilige Grab als Sinnbild christlichen Tod/Leben-"Yin/Yangs", was erst recht die Hoffnung der Menschheit, wenn er mit Hilfe von Herrschaftsarchitektur und Reliquiengläubigkeit die Macht der in Frankreich Herrschenden über die ausgeplünderten Massen stabilisieren kann und als nun unangefochtener Führer Europas eine Perspektive auf die Kontrolle der Handelswege im Nahen Osten hat. Die Sainte-Chapelle ist Symbol der Einheit von weltlicher und geistlicher Macht, die nun in der Hand Frankreichs ist. Sie tritt in moderater Form auf, der König von Frankreich wird wegen seines Machtanspruches nicht exkommuniziert, seine Nachfolger beherbergen in Avignon nun vielmehr die Päpste. Aber - so wollen es einige aus der Rückschau 1991 wissen - Friedrich II. mit seinen arabischen Verbindungen und die "Deutsche Mystik" müssen sich keineswegs geschlagen geben, wie sich zeigen wird.

Die Sainte-Chapelle des New Age steht nur wenige hundert Meter von der alten gotischen entfernt. Die Louvre-Pyramide ist das wohl am meisten verkannte aktuelle Bauwerk, ein Sinnbild des New Age als Ideologie eines Europa, das den Weltrang Nummer Eins beansprucht. Das einzigartige Gebäude, dessen Materialien erst noch entwickelt werden mußten, hat nicht nur die Form des - neben dem "Yin und Yang"-Zeichen - weitaus am meisten benutzten Symbols des New Age und der kosmischen Harmonie; es kann auch in sich selbst in vielfacher Weise als Ausdruck der Einheit von Spiritualität, Wissenschaft und Technik gesehen werden. Dieser pyramidische Bau ist der Eingang zum Wissen und zur Kultur der Menschheit, die von den französischen Königen und Kaisern zusammengeraubt wurde und im "Musée du Louvre" ausgestellt ist. Tagsüber geht es in und um den Bau so schockierend zu wie in einer mittelalterlichen Kathedrale, die die Einheit von Geist und Materie durch das himmlische Jerusalem und das göttliche Licht einerseits und den prallen Jahrmarkts-Tingeltangel andererseits herstellt. Nachts dagegen fühlt man sich an Stanley Kubriks "2001 - Odyssee im Weltraum" erinnert, wenn nach der Abenddämmerung im "Cour Napoléon" der reine Kristall, von innen leuchtend, über den ringsum ruhigen Wasserflächen schwebt, als kosmischer Fremdkörper im Hof vor dem Barockschloß. Erleuchtete mögen den Kontakt zum Kosmos hier ebenso unmittelbar zu erleben glauben, wie die noblen Domherren der Gotik es in den lichtdurchfluteten Hochchören empfanden, wenn der lärmende Pöbel die Kathedralen verlassen hatte und wieder auf dem Felde zu ihrer Finanzierung im Schweiße seines Angesichtes arbeiten mußte, auch nachts, wenn der Lehensherr noch mehr Ertrag verlangte. Die Menschen, die den Tag über in der Pyramide ein und aus gehen, auf den Umrandungen der Wasserbecken sitzend lauthals lachen, ihre schreienden Kinder einzufangen versuchen, mit dem Skateboard über die grau geplättelte Ebene rattern, nach dem Verspeisen des mitgebrachten Pan Bagnat nach Zwiebeln und Thunfisch riechen, gegen leere Cola-Dosen treten und sich sogar in den geometrischen Teichen zu erfrischen suchen, stören das neue Bild der Gesamtanlage. Erst abends wird der Charakter dieses Ortes als einem heiligen des New Age deutlich. Das ist keine Architektur für wirkliche Menschen in einer realen Lebenswelt, so wenig wie es die der gotischen Kathedralen war, deren zeitweilige Jahrmarkts-Atmosphäre den Zauber des "himmlischen Jerusalem" nicht aufkommen ließ. Das Bauwerk gibt erst so recht ihre kosmische Bedeutung preis, wenn die Wirklichkeit der "kleinen Leute" dem Mystizismus Platz gemacht hat.

Die von der Gotik durch scheinbar entmaterialisierte Architektur erstrebte Herstellung der Einheit aus Diesseits und Jenseits ist in der gläsernen Pyramide auf eine Weise gelungen, die den gotischen Architekten trotz aller irdischer Mühe und spiritueller Verbundenheit mit dem Kosmos technisch noch unmöglich war. Das göttliche Licht kann gänzlich ungehindert ein- und durchdringen - es kommt wohl nicht von ungefähr, daß sich das "Neue Denken" wesentlich an den physikalischen Arbeiten der letzten Jahrhundertwende über die Qualität und das Verhalten des Lichtes entwickelte; Lux Mundi, das Licht der Welt, so nennen die Christen von je her ihren auferstandenen Heiland. Die Kathedralen der Gotik erschienen vom Innern her als das Abbild des Himmels, wenn die Sonne die riesigen Glasfenster leuchten ließ und bunte Lichtstrahlen im Spiel mit den Weihrauchschwaden das Göttliche scheinbar magisch sichtbar machten. Die Louvre-Pyramide gibt ihren kosmischen Bezug beim Anblick von außen preis, wo sie in ihrer Fremdheit zur Umgebung und in ihrer Reinheit als Manifestation des göttlichen kosmischen Gesetzes erscheinen mag. So wie die gotischen Baumeister im Bestreben, Vollkommenheit zu erreichen, alles das Licht Störende der Baukonstruktion aus dem Gesichtsfeld nahmen und als Strebebögen nach außen legten, so ist die selbsttragende Gerüstkonstruktion der Pyramide nach innen verlegt, um den Eindruck der Vollkommenheit der Ebene, als die die vier Wände der Pyramide erscheinen, und der Allgegenwärtigkeit des durchströmenden Lichts nicht zu zerstören. Solche Vollkommenheit und All-Gegenwärtigkeit ist nach jeweils herkömmlichem menschlichem Maß - damals wie heute - unmöglich und scheint nur aus der faustischen Selbstgöttlichkeit herstellbar, so lautet die Botschaft, der es um die schließlich materielle, utilitaristische Nutzung dieser Selbstgöttlichkeit geht. Und so wie die gotische Sainte-Chapelle durch ihre menschlichen Ausmaße den Bau des Himmels ebenso wie die Eroberung des realen Jerusalem als Menschen-Möglichkeit erscheinen ließ, so sind die Ausmaße der Sainte-Chapelle des New Age - sie ist nur ein Meter zehn höher als die Hauptkapelle ihre alten Schwester - Ausdruck der Selbstgöttlichkeit des New Age-Menschen und der Möglichkeit seines erstrebten kosmischen Imperialismus. Die Louvre-Pyramide ist das neue Abbild des Himmels, die vom Menschen geschaffenen göttliche Vollkommenheit, in der es weder ein materielles Hindernis noch eine verpflichtende Konvention (etwa zum Baustil der Umgebung) zu geben scheint. Das Bauwerk vermittelt den Eindruck, sich über beides mit größter Leichtigkeit zu erheben und steht somit als Symbol des selbstgöttlichen Menschen.

Die Pyramide des Architekten Ieoh Ming Pei vor dem Louvre in Paris.
 
Zum 200. Jubiläum der Französischen Revolution verbrannte die Bourgeoisie wieder ihre Fahnen. Auf die Juli-Säule an der Place de la Bastille, die für zwei Revolutionen, für Aufklärung, Vernunft, Freiheit, Gleichheit und Solidarität als einer konkreten Utopie steht, die in der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Kapitalinteressen nicht zu verwirklichen ist, folgt nun die Propaganda einer spirituellen Vision des All-Einen, Materialisierung von Ideologie im Kunstwerk, Kleister  gegen die Zerrissenheit der wirklichen Gesellschaft im global totalen Kapitalismus. Das soziale Elend von Argeninien bis China zeigt, daß "New Age" nur ist, was alle Religionen vor ihm waren: Lüge, und somit mehr als bloße Illusion.

New Ager haben das Gebäude nach seiner Fertigstellung 1989 sofort in spirituellen Besitz genommen. Wenn die untergehende Sonne lange nach Schließung des Museums durch die Pyramide hindurch scheint, sitzen sie meditierend am Ostende des "Cour Napoléon". Die lärmenden Touristen haben sich nun in ihre Hotels oder Restaurants verzogen, für das New Age entsteht um diese Zeit jeden Tag neu ein Kraftort, den es zu nutzen gilt. Pyramiden sind spirituelle Zentren des New Age. Das gilt für die Cheops-Pyramide bei Kairo, dem Urbild der New Age-Pyramiden, ebenso wie für die "Stadt der Pyramide" Karlsruhe (so das New Age-Blatt "esotera" in einer Geschichte über diesen angeblichen Kraftort, Nr. 6/1990), in deren Grundriß und Gebäuden sich nicht nur zahlreiche Hinweise auf die Cheops-Pyramide finden lassen sollen ("Das kann doch wohl kein Zufall sein", "esotera" S. 90), sondern auf deren Marktplatz auch seit 1823 ein pyramidenförmiger Buntsandsteinklotz steht, dessen Nordseite "nur am Tag der Sommersonnenwende von der Sonne angestrahlt" werde (ebd., S. 91) - die Externsteine lassen grüßen. Kein Wunder, daß Rudolf Steiner hier in der Nähe sein "Sonnenheiligtum Malsch" errichtete, angeblich "auf dem Platz einer spätatlantischen Orakelstätte" (ebd.) - somit wäre der alte Mythos vom germanisch-atlantischen Ägypten- "Atlantis" -, den auch Alfred Rosenberg beschwor, wieder komplett. Am Tag der Grundsteinlegung zu seinem Sonnenheiligtum, dessen Bauart das Vorbild zum antroposophischen Zentrum Goetheanum in Dornach bei Basel abgab, weihte Steiner hier die Loge "Franz von Assisi" der rassistischen "Theosophischen Gesellschaft", der er zu dieser Zeit noch angehörte - nein, das alles kann wirklich kein Zufall mehr sein!

"Stark wirksame Spezialpyramiden" im Taschen- oder Zimmerformat "für esoterische Anwendungen, Meditation, Verstärkung parapsychischer Kräfte, Aufladung von Nahrungs- und Genußmitteln, Pendeln und Edelsteinen", die hier drunter gelegt werden, verspricht ein New Age-Versandhaus in einer Annonce aus New Age-Zeitschriften. "Pyramid Products", ansässig in einer Goethestraße, verspricht eben dort in einer ganzseitigen Anzeige unter Hinweis auf die "Große Pyramide des Cheops" die Konservierung von Lebensmitteln mit Hilfe von "Pyrmiden-Energie" - weil doch auch die Pharaonen mumifiziert sind. Die Firma "Pyramidion" verkauft "Meditationspyramiden" aus Kupferstäben, in die man sich zwecks Kraftaufladen hinein setzt: "Die Form der von uns hergestellten und vertriebenen Pyramiden ist berechnet nach den Harmoniegesetzes des Alls", heißt es im Prospekt; so kann man dann "das Schicksal bewußt leben" (ein Buchtitel, den dieselbe Firma verlegt hat). Das "esoterische Ferien-, Seminar- und Therapiezentrum Etora" auf der atlantischen Vulkaninsel Lanzarote ist gleich in Form der Pyramide erbaut worden. Hier fand 1990 die skandalträchtige "Zeitgeist"-Tagung statt, zu der sich der frühere Bundesinnenminister Gerhard Baum, der Atomkritiker Klaus Traube, der ansonsten linke Musiker Konstantin Wecker gemeinsam mit dem Gründer rechtsextremer Parteien und Weltraumforscher Heinz Kaminski, dem Kopf des "Worpsweder Kreises" (in dem ein rassistischer Ariosoph mitarbeitete) Jochen Uebel, dem "sanften" Antisemiten Franz Alt oder dem einschlägig nationalrevolutionär bekannten Alfred Mechtersheimer (vgl. Kratz 1990) einladen ließen. Die Leitung der Veranstaltung hatte der Journalist Rainer Holbe inne, der gerade ein mit antisemitischen Ausfällen gespicktes Buch veröffentlicht hatte. Das Motto der Veranstaltung lautete passend zur kommenden deutschen Einheit: "Strebe immer zum Ganzen - und wenn Du selber kein Ganzes sein kannst, schließ' an ein Ganzes Dich an!" Wegen dem breiten öffentlichen Aufsehen um Holbes Buch sagte u. a. Gerhard Baum seine Teilnahme kurzfristig ab. (X02)

Eine New-Age-Zeitschrift verbindet die Mythen.
Was den gotischen Mystikern "Jerusalem" war, ist den Völkischen und New Agern "Atlantis", der mythische Ursprungsort der Pyramiden als Verbindung zwischen Mensch und Kosmos.

Auch die "Neue Rechte" bis hin zum militanten Neonazismus hat in Fortsetzung historischer Anknüpfungen die Pyramide für sich entdeckt. Zu nützlich ist das Sinnbild der Hierarchie der Ungleichen, als daß man es hier entbehren könnte. "Pyramid Media" hieß eine laut dem bayrischen Innenministerium der Wiking-Jugend nahestehende Firma in München, die am 15. 4. 1988 eine Veranstaltung mit dem Leiter des "neurechten" "Thule-Seminars", Pierre Krebs, abhielt. Unter den circa hundert Gästen war auch die Tochter Heinrich Himmlers, die eine gewisse Kontinuität zur alten "Thule-Gesellschaft" der frühen 20er Jahre verkörperte. "Pyramid Media" versuchte, sich Ende der 80er Jahre in die Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung einzuschalten. Die Louvre-Pyramide war seit dem Beginn der Planungen zum Ausbau des "Grand Louvre" 1981 das Haßobjekt der Konservativen und "Neuen Rechten" in Frankreich gewesen, die Modernismus und Amerikanismus am Werke sahen. Die weit rechts stehende Zeitung "Le Figaro", in deren Wochenendbeilage "Figaro Magazine" der Kopf der Nouvelle Droite, der Neuheide Alain de Benoist, als Chefredakteur jahrelang die erneuerte faschistische Ideologie verbreitet hatte, machte jedoch noch vor der offiziellen Eröffnung des Glasbaues eine Kehrtwende und begrüßte das Werk. Offenbar hatten die intellektuellen Führer der "Neuen Rechten" doch noch erkannt, daß hier zum richtigen Zeitpunkt ihr europäisch "eigenes" Symbol, nicht das Amerikas, entstanden war.

Vielleicht hatte man sich inzwischen ja an die politisch rechte Tradition der Moderne erinnert, die es eben auch gibt, vor allem im mediterranen Raum als Futurismus. Strenges Styling als übersteigerte Disziplin ist allenfalls ein Faszinosum, jedoch kein menschenfreundlicher Stil. Die mystischen Gehalte der Bauhaus-Moderne, an die ein Name wie Paul Klee erinnert, sind in ihrer möglichen anti-emanzipatorischen Wirkung nicht zu unterschätzen, vor allem dann, wenn die neue Architekturrichtung von ihren sozialen Inhalten - der praktischen, hellen und luftigen Alternative zu den Tuberkulose-Hinterhof-Mietskasernen des Hochkapitalismus - getrennt wird und zu einem von der menschlichen Wirklichkeit abgehobenen reinen Stil verkommt. So bleibt nur noch die Mystik der Zahl und der Geometrie, die auf das Übermenschliche, das Transzendente oder Kosmische verweist und den Blick ablenkt von der billigen "Moderne fürs Volk", die in Satellitenstädten die alten Mietskasernen-Fehler auf neue Art wiederholt. Traumwelten statt Wirklichkeiten sind die Folge des vom Sozialen gereinigten Stils, Visionen für Esoteriker statt konkreter Utopien für die Massen. Dieser Stil ist dann nur noch heroisch. Die Massen und ihre materiellen Bedürfnisse aber haben nichts Heroisches, nur Menschliches. Der historische Faschismus, auf der pantheistischen völkischen Bewegung fußend, war in diesem Sinne keineswegs "anti-modern" und auch in der Kunst nicht durchgehend auf die plumpe Verherrlichung von Blut und Boden und rückschrittlicher Bauernkultur programmiert, wie dies schließlich die "Deutsche Kunstausstellung" Adolf Hitlers glauben machte. Mancher Bauhaus-Entwurf drückte mehr "Verbundenheit mit dem kosmischen Denken", mehr selbstvergöttlichtes, heldisches Bewußtsein seines Schöpfers und damit mehr Potential als steinernes Symbol für das Faustische aus als das peinlich reaktionäre Waldhäuschen-Ideal des deutschen Faschismus, immer mit "deutschem" Spitzdach, ganz so, wie der Walküre-Felsen als lichte Weltenscheibe im Bühnenbild des politisch weit rechts stehenden Regisseurs Wolfgang Wagner das von seinem Urgroßvater Richard Wagner gemeinte völkisch "eigene" Religiöse (und Politische) zeitgemäßer ausdrückt als der finstere Germanenwald der Bühnenbilder des 19. Jahrhunderts (vgl. Anm. 8). Modernistische Faschisten setzten ja sogar tatsächlich auf den Expressionismus als der "typisch deutschen" Kunstrichtung des 20. Jahrunderts, die in der Weimarer Zeit heftige Anleihen beim Futurismus machte, sie konnten sich aber gegen die Ideen des naiven "Kunstmalers" Hitler - der hier vielleicht wirklich einmal maßgeblich gewesen sein mag und die Moderne aus der "Deutschen Kunstausstellung" hinauswarf - nicht durchsetzen. Die "Neue Rechte" heute versteht mehr von der Möglichkeit zum Heroismus in der Moderne, wenn diese, entmenschlicht, vom selbstvergöttlichten nordischen Weißen dienstbar gemacht wird.

Die Verbindung des spirituellen Wahns des New Age mit dem abstrakten Stil der Moderne zeigt sich am aufdringlichsten in Brasilia, der weitgehend menschenfeindlichen Retortenstadt der 50er und 60er Jahre-Architektur. Die Gegend im brasilianischen Hochland war bereits vor Baubeginn ein Zentrum esoterischer Gruppen. Der zeitweilige Gouverneur des Bundesdistriktes Brasilia, der fanatische New Ager José Aparecido de Oliveira, sieht hier die "Hauptstadt des Wassermannzeitalters", deren Ausstrahlung die Menschheit im nächsten Jahrtausend bestimmen und retten soll. In den Gebäuden der Urwaldmetropole sollen sich zahllose Dreiecke finden lassen, Pyramiden eben; in den ebenso zahllosen Sekten der Stadt hält sich hartnäckig die Ansicht, der frühere brasilianische Präsident Juscelino Kubitschek, der die Verantwortung für den Bau Brasilias trägt, sei die Reinkarnation des Pharao Echnaton gewesen. Kein Wunder, daß es hier eine "Holistische Universität" gibt, wo die Parole "Ordnung und Fortschritt" über einem stilisierten Kosmos allgegenwärtig auf der brasilianischen Nationalflagge prangt.

"Eine reine, klassische, natürliche Form unseres Universums, eine Form wie ein Kristall" wollte der Architekt der Louvre-Pyramide, Ieoh Ming Pei, schaffen. (X03)  Er ist der "Architekt der großen Konzerne und Versicherungen". (X04)  Sein spiegelverglaster Wolkenkratzer für die John Hancock Life Insurance in Boston macht sich durch die Reflexion von Wolken und Himmel unsichtbar - die Entmaterialisierung des materiell herrschenden Kapitals: ein Meisterstück ideologischer Architektur! Die Louvre-Pyramide wurde mit dem Weltwirtschaftsgipfel 1989 eröffnet, die Staats- und Regierungschefs der sieben Wirtschaftsmächte trafen sich unter der Pyramide zu den Begrüßungsfeierlichkeiten. Ob sie sich der angeblichen kosmisch-spirituellen Kraftfelder im Pyramiden-Innern bewußt waren oder nicht, hier war die Weltmarkt-Konkurrenz-Situation der nächsten Jahre ebenso ein bestimmendes Thema wie die Modalitäten der Eroberung und ökonomischen Nutzung des Weltraums. Man hätte sich keinen besseren Platz wählen können. Dies war die aktuelle Ausprägung des Zusammentreffens von Spiritualität einerseits und Großmarkt und weltlicher Amtshandlung andererseits, die aktuelle Ausformung der gotischen Kathedralen-Atmosphäre. Der Weltwirtschaftsgipfel traf sich aus Anlaß der 200-Jahr-Feiern der Französischen Revolution in Paris, zu deren Ruhm der am meisten herrschende Sozialist die Louvre-Pyramide am einen Ende, den schnell wieder umbenannten "Triumphbogen der Menschheit" (heute schlicht La Grande Arche) am anderen Ende ausgerechnet der städtebaulichen "Königsachse" errichten ließ. Die Straßenflucht vom Schloß Ludwigs XIV. zum Neubauviertel des Kapitals La Defense ist kein Ruhmesblatt von Freiheit, Gleichheit und Solidarität, sondern eines des siegreichen Kapitals. Wo einstmals die Guillotine stand, erhebt sich seit den 1830ern der Obelisk von Luxor, ein Geschenk des Königs von Ägypten an den "Bürgerkönig" Frankreichs, Louis Philippe, der vom Kapital ein bißchen Macht geliehen bekam und vom Jahrtausende toten Sklavenhalter-Pharao ein bißchen Glanz. Auf der Höhe und fast in der Mitte der "Königsachse" - von hier sind beide Ruhmesbauten des Jahres 1989 zu sehen - steht auf der Plave d'Étoile der Triumphbogen des militaristischen Liquidators der Volksrevolution und politischen Führers der französischen Fraktion des nunmehr kapitalistischen Imperialismus, Napoleon Bonaparte, gegen dessen wiederkehrendes Gespenst die völkischen Deutschen anstürmten - Germania gegen Lutetia.

Dieser Kampf ist nun vorbei, überflüssig auch in der deutsch geführten EG; die Pariser Pyramide der Ungleichheit ist ein Symbol dafür. Europas "eigene" ganzheitlich-kosmische Weltanschauung hat andere, sanftere Wege gefunden, die Ideen der bürgerlichen Revolutionen zu bekämpfen. Sie werden kosmisch-spirituell umarmt und - so in ihr Gegenteil verkehrt - den Herrschenden nutzbar gemacht, wie wir es im 5. Kapitel bereits am Beispiel der Respiritualisierung der Aufklärungsphilosophie sahen. Die europäische Strategie zur Welt- und Kosmosherrschaft führt hierüber: Zum Ruhme der Französischen Revolution wird von einem Sozialisten das Symbol der Hierarchie und der Unfreiheit errichtet. Nicht mehr an die Befreiung von der religiös legitimierten und deshalb unhinterfragbaren Herrschaft des Menschen über den Menschen soll man bei diesen Denkmalen denken, sondern wieder an die natürliche Gebundenheit des Menschen - vielmehr: der Massen - an angeblich unveränderliche Gesetze der Gesellschaft, die aus dem göttlichen Kosmos abgeleitet und damit erneut unhinterfragbar sind. Dort, wo sich 1789 das einfache Volk zum Subjekt der Geschichte machte, steht heute das Sinnbild seiner aktuellen und zukünftigen Entsubjektivierung. Die Pyramide verweist auf das kosmische Schicksal, in das sich die Massen zu fügen haben.

Deutsche Träume 1992.
Die "verspätete Nation" kam nicht nur bei den Kolonien im 19. Jahrhundert - dem "Platz an der Sonne",  für den Wilhelm II., Krupp, Borsig und die SPD-Reichtagsfraktion Kriege führten - zu spät, auch beim New Age-Symbol. Der Berliner Künstler Wolfgang Heinrich Fischer wollte über dem Reichstagsgebäude ein "Lichtsymbol" als  Pyramide aus Laser-Kanonen entstehen lassen, Deutschlands Ruhm bis ins All verstrahlend. Ein"Beitrag zur Aufarbeitung unserer jüngeren Geschichte und zur Bewältigung der immensen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft" sollte das Werk sein, "dem deutschen Volk als Symbol für seinen Wunsch nach Glück, Gerechtigkeit und weltweitem Frieden, als Symbol für seine Einheit" dienen. Der "General-Anzeiger", der das Projekt am 30. 5. 1992 mit dem obigen Bild vorstellte,  fand es "fragwürdig", andere wurden an die "Lichtdome" der Nazizeit erinnert.

Den Ruf zur spirituellen "Rückbindung an die Natur" sieht das New Age-Blatt "esotera" in allen Pyramiden-Ecken der Stadt Karlsruhe und schafft auch sogleich den Anschluß an die Gotik: "Seit ich einmal in der Kathedrale von Chartres war und die Energien dort gespürt habe", so zitiert die Zeitschrift den esoterischen Karlsruhe-Erforscher Martin Möller, "ahnte ich plötzlich, weshalb an diesen und ähnlichen Stellen Kirchen errichtet wurden. Wir Menschen haben die Aufgabe, uns an diesen Orten der Kraft zu sammeln, um dort in innerer Versenkung eine heute so notwendige Rückbindung an die Natur, den Kosmos und Gott zu erfahren" (a. a. O., S. 94). Wenn die Entscheidungen des Weltwirtschaftsgipfels, die für Millionen Menschen vor allem der "Dritten Welt" Elend, Hunger und für Zigtausende den Tod bedeuten, derart "rückgebunden" werden können, läßt sich der Widerstand hiergegen in den solidarischen Teilen der Metropolen klein halten. Die massenhafte Verbreitung von New Age-Wahnideen in den "neuen sozialen Bewegungen" ist der Garant für die gesellschaftliche Ruhe. "esotera" geht noch einen Schritt weiter in die Richtung des Entzugs der Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen aus der Verfügungsgewalt der Mehrheiten. Die Rechtsprechung als das Bewahrungs- und Ausführungsorgan der zwischen den Menschen nach Mehrheiten frei vereinbarten Regeln des Zusammenlebens - so die bürgerliche Theorie - wird selbst kosmisch "rückgebunden" und somit dem gesellschaftlichen Subjekt entzogen: "Auch der Standort der höchsten Gerichte der Bundesrepublik, des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe, kann nach Dr. Möller nicht zufällig ausgewählt worden sein" (ebd., S. 92 f). Vielmehr sollen die gedachten Verbindungslinien zwischen den Gebäuden der beiden Gerichte und dem Standort der Verfassungssäule in der Karlsruher Innenstadt - das wundert nun nicht mehr - wiederum eine Pyramide ergeben. Also braucht niemand mehr die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes politisch-gesellschaftlich zu hinterfragen, denn sie sind "rückgebunden" an den Kosmos und seine göttlichen Naturgesetze!

Der hochgotische Kaiser Friedrich II., der dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einen straffen Beamtenapparat und ein "modernes" Rechts- und Regelwesen inklusive Steuerneinzug gab, erließ bei einem seiner seltenen Deutschlandaufenthalte, zu dem er "mit Sarazenen und Mohren, mit Kamelen, Affen und Leoparden" anreiste, wie es in einem Schulbuch des Ernst Klett Verlages von 1966 heißt, das damals wichtigste Gesetz zur Regelung der zwischenmenschlichen Verhältnisse überhaupt, das Landfriedensgesetz, dessen Notwendigkeit er damit begründete, daß man bisher "in Deutschland nach ungeschriebenem Gewohnheitsrecht lebt". Zur Zeit, als der König von Frankreich die Sainte-Chapelle errichten ließ, wurde Friedrichs berühmtes Schloß Castel del Monte in Apulien gebaut. Ende 1991 wartete DER SPIEGEL mit einer Geschichte über drei italienische Professoren auf, die zwischen dem achteckigen Castel in Süditalien und der Cheops-Pyramide in Ägypten architektonische Zusammenhänge gefunden haben wollen. "In der geometrischen Formelsprache von Castel del Monte soll nämlich Friedrich II. allerlei Hinweise auf andere ihm wichtige Orte und Bauwerke versteckt haben", berichtet DER SPIEGEL (Nr. 42/1991, S. 241), "auf Chartres und die Kathedrale Notre-Dame, auf Jerusalem und den Felsendom. Vor allem aber wollen die Forscher im Grundriß versteckt auch ein Abbild der Cheops-Pyramide erkannt haben - samt Angaben über die Lage jener verborgenen Kammer des Pharaonen, die bisher noch niemand gefunden hat" - außer Fritze Zwo aus Schwaben und Palermo, der die Kenntnis dessen, was anderen bisher unbekannt blieb, dann wohl wegen seiner Selbstgöttlichkeit haben mußte. Freilich kann der konservativ-revolutionär gewendete SPIEGEL der 90er Jahre trotz allem Europa-Dusel die zutiefst deutsche Angelegenheit nicht den Italienern überlassen. "Daß Friedrich der Nachwelt in der Anlage von Castel del Monte eine bewußte Aussage hinterlassen wollte, ... hat kaum weniger überzeugend ein paar Jahre vor den Italienern der deutsche Kunsthistoriker Heinz Goetze dargestellt. Für ihn ist der aus Quadrat und Kreis entwickelte Achtstern ein Symbol der weltlichen und geistlichen Herrschaft, die Friedrich II. für sich beanspruchte" (S. 243), womit der Kosmos wieder ins indogermanische Lot gebracht wäre.

Die AnhängerInnen der "eigenen Religion Europas" jeder Provinienz können aufatmen.  

"Keine Aufklärungsschrift wird die Religion aus den Massen austreiben, die, niedergedrückt durch die kapitalistische Zwangsarbeit, von den blind waltenden, zerstörerischen Kräften des Kapitalismus abhängig bleiben, solange diese Massen nicht selbst gelernt haben werden, diese Wurzel der Religion, die Herrschaft des Kapitals in all ihren Formen vereint, organisiert, planmäßig, bewußt zu bekämpfen."

W. I. Lenin  

 

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Anmerkungen:
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(X01) Vgl. W. Swaan: Die großen Kathedralen, Köln 1969.
(X02) Vgl. Das Seminarprogramm 1990/91 von "Etora" und "Taz" 5. 4. 90 und 17. 4. 90.
(X03) Vgl. B. Suner: Ieoh Ming Pei, Basel 1989; C. Wiseman: I. M. Pei. A Profile in American Architecture, 1990.
Die kosmische Kälte überkommt einen dagegen beim Centre Pompidou überhaupt nicht, einem lebensfrohen, verrückten Bau der 70er Jahre, dessen Vorplatz-Atmosphäre die Pariser Antwort auf den Central Park ist.
(X04) Coop Himmelblau: Von der Provokationsästhetik zur Modellarchitektur der 90er Jahre, in: Chr. W. Thomson (Hrsg:): Experimentelle Architektur der Gegenwart, Köln 1991, S. 66.

* . W. I. Lenin: Über das Verhältnis der Arbeiterbewegung zur Religion, in: Lenin Werke, Bd. 15, S. 408.

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