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Revolution und Alltag 2008:
 
Brooklyn Views
 
Keine Bange, wir sind noch nicht im Exil!

"An' we gazed upon the chimes of freedom flashing" -- es ist kein Zufall, dass die heute zu oft schon vergessenen Ideen von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in den Liedern von Bob Dylan weiter leben, ins Amerikanische übersetzt. Viel mehr als "Gottes" ist es der freien Menschen eigenes Land. Die erste Revolution der Neuzeit, die nicht sogleich zu Tyrannei gerann, gelang hier (freilich eine Zeitlang noch auf der Entrechtung der Unfreien fußend: auf der Arbeitskraft der afrikanischen Sklaven - damals ein Fünftel der Bevölkerung - und auf dem politischen Schweigegebot an die Frauen, daran konnte auch die beredte Frauenrechtlerin Abigail Adams, erste First Lady im White House, nichts ändern). Erstmals wurden hier allgemeine Menschenrechte in staatliche Verfassungen formuliert, erstmals die Herrschaft der Menschen über sich selbst durch einen Grundrechtskatalog und durch republikanische Gewaltenteilung abgesichert. Erstmals wurde in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ein Recht auf Revolution durch die Bürger postuliert.

Die "Declaration of Rights" Virginias vom Juni 1776 und die Präambel der "Declaration of Independence" des Kontinentalkongresses der Kolonien vom 4. Juli 1776 waren Vorbilder für die "Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen" der Französischen Revolution Jahre später (die dann freilich mit der Sklavenbefreiung ihr Vorbild politisch weit übertraf) und in Teilen für das "Manifest der Kommunistischen Partei" von Karl Marx und Friedrich Engels Jahrzehnte später, das zur geistigen Grundlage der revolutionären Arbeiterbewegung wurde (die freilich auch noch lange Zeit keine Arbeiterinnen kannte) und den Primat der materiellen sozialen Freiheit gegenüber der bloß formalen bürgerlichen, aber "auf ihren Schultern", klarstellte.

Aus der Perspektive der europäischen Geistes- und Revolutionsgeschichte waren die Mängel der Amerikanischen Revolution nicht nur Schönheitsfehler, aber statt nur zu reden und zu schreiben, zu philosophieren, haben die zupackenden Kolonisten ihre unvollkommene Revolution tatsächlich gemacht. Hier wurde zum ersten Mal bewiesen, dass die Ideen der Aufklärung aus den industriell fortgeschrittensten, aber noch feudal gefesselten Staaten Großbritannien und Frankreich tatsächlich Praxis werden können, mit dem Anspruch "for every hung-up person in the whole wide universe", wie es dann Bob Dylan ausdrückte. Das war der entscheidende Schritt.

Kurzsichtige Kritiker der Amerikanischen Revolution übersehen nur zu gerne: Die Sklaven der östlichen Hemisphäre - zahlreicher und noch bis heute anzutreffen - erlebten keine Befreiung, nicht einmal eine Hoffnung darauf, und ihre Herren entwickelten niemals Ideen von Freiheit und Gleichheit der Menschen. Kein Blues erinnert an ihr Schicksal und gibt ihnen die Menschenwürde zurück. Und die Frauen des Ostens unterliegen in ihrer großen Mehrzahl bis heute dem Schweigegebot. Nirgendwo anders als im amerikanischen Exil hätten Horkheimer und Adorno die "Dialektik der Aufklärung" schreiben können, das wichtigste philosophische Werk des Zwanzigsten Jahrhunderts, und was Wunder, dass Dylan sie rauf und runter singt. "Westextremisten" hat uns die vereinigte Neue Rechte von Henning Eichberg über Rolf Stolz bis zu Manfred Rouhs schon in den 80er Jahren genannt, im Gefolge der französischen Neo-Reaktion um Alain de Benoist und ihren deutschen Wurmfortsatz Armin Mohler, den Wiedererwecker faschistischer Ideologie in Deutschland.

Sogleich nach ihrer Verabschiedung (es war an einem Donnerstag, wie wir jetzt nachrechnen können, "thunder went crashing" ...) wurde die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung ins Deutsche übersetzt und im "Pennsylvanischen Staatsboten" veröffentlicht, einer deutschen Zeitung, die freitags und dienstags im Hauptsiedlungsgebiet der deutschen Auswanderer und Abenteurer, dem "Wald" des Quäkers William Penn mit seiner Hauptstadt Philadelphia erschien. Im deutschsprachigen Europa, noch vorindustriell und deshalb auch geistig zurückgeblieben, fand sie keine Resonanz, doch auch die Bauern Pennsylvanias hatten sich die Aufklärung wohl nur ausgeliehen aus den englischen und französischen Städten der Frühindustrialisierung. Auch in Preußen dienten die Ideen Voltaires und Mendelssohns in dieser Zeit zu nicht viel mehr als dem Vertreiben der Langeweile des Königshofs zwischen den feudalen Eroberungskriegen.

Am Dienstag, dem 9. Juli 1776 ...



... brachte Henrich Miller die erste Menschenrechtserklärung der Geschichte in seinem "Pennsylvanischen Staatsboten" den deutschsprachigen Kolonisten zur Kenntnis. Philadelphia war da schon eine Handels- und Handwerkerstadt mit bedeutendem Geistesleben, das alte Breukelen (Brooklyn), mehrere Tagesritte und eine Schiffsfahrt entfernt, immer noch nicht viel mehr als ein vormals holländisches Bauerndorf.

Im zweiten Abschnitt der Präambel heißt es: "Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräusserlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung derer die regiert werden, herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volkes ist sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket. Zwar gebietet Klugheit, daß von langer Zeit her eingeführte Regierungen nicht um leichter und vergänglicher Ursachen willen verändert werden sollen; und demnach hat die Erfahrung von jeher gezeigt, daß Menschen, so lang das Uebel noch zu ertragen ist, lieber leiden und dulden wollen, als sich durch Umstossung solcher Regierungsformen, zu denen sie gewöhnt sind, selbst Recht und Hülfe verschaffen. Wenn aber eine lange Reihe von Mißhandlungen und gewaltsamen Eingriffen, auf einen und eben den Gegenstand unabläßig gerichtet, einen Anschlag an den Tag legt sie unter unumschränkte Herrschaft zu bringen, so ist es ihr Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen, und sich für ihre künftige Sicherheit neue Gewähren zu verschaffen." Da ist man platt: "Recht, ja Pflicht, die Regierung abzuwerfen"!

Was ist die amerikanische Demokratie heute wert? Nach der Sklavenbefreiung und nach John Lennons "Woman Is the Nigger of the World"? Vor und nach dem Finanz-Crash? Vor und neben der "United States Mint", wo keineswegs "Hubba Bubba" verkauft wird? Wenn der Teller erst mal leer gegessen ist?

Auf die Williamsburg Bridge, die von Manhattan nach Brooklyn führt, haben es kluge Köpfe einfach hingesprüht im Herbst 2008:



Auf dem immer lehrreichen Fuß- und Fahrradweg über die Williamsburg Bridge.

Es gibt Sozialisten in New York -- oder sind es doch nur vegane Autonome, die Beuys verehren? In New Yorks einzigem autonomen Buchladen, der im angesagten Szeneviertel Lower Eastside auf Manhattan liegt, wo freilich seine Kundschaft (die lebt in Brooklyn) wegen der unvorstellbaren Mieten nicht wohnt, wird der ganze reaktionäre Schund - vom islamistischen Frauenfeind Mumia Abu-Jamal bis zum Wehrmachtspiloten Joseph Beuys - verkauft, den man auch aus deutschen autonomen Buchläden kennt. Es ist sogar noch schlimmer, weil die kritischen Bücher über Beuys nicht ins Englische übersetzt sind; man verehrt den "Grünen" einschränkungslos und blind. Der tierliebe Schickimicki weiß sowieso nicht viel vom "Battle of Brooklyn" und was das alles sollte, als die Menschen noch darum kämpften, dass ihre Kinder Fleisch in die Töpfe bekamen, die Motivation jeder Revolution. Wer glaubt denn, Menschen stürben, damit ein Poet seine Gedichte veröffentlichen kann?






Brooklyn Is More Than Love


In der Tat, in der Region des heutigen New York fanden entscheidende Schlachten gegen die Unfreiheit der Menschen statt, und fast war hier alles verloren, als wenige Monate nach der Unabhängigkeitserklärung zwölftausend hessische Söldner des englischen Königs und des britischen Handelskapitals auf der Insel Richmond, dem heutigen Staten Island, anlandeten. Viele waren klug genug, nach der kostenlosen Überfahrt eilends zu desertieren und sich den Freien anzuschließen. Etwas besseres als den Tod für den Feudalherrscher brachte das weite Land immer, in dem sogar Platz genug für die Kolonisten und die indianischen vorkolonialen "Natives" gewesen wäre. Die Engländer hatten schon vor der Boston Teaparty kommen sehen, dass sie den anhaltenden Unabhängigkeitsbestrebungen, wenn überhaupt, nur mit Gewalt begegnen konnten. Es wurde schnell ein Krieg daraus, dem man heute als "Revolutionary War" gedenkt, obwohl anfangs gar nicht an eine Revolution, sondern nur an Steuererleichterungen gedacht war. Wer schon mal durch Kuba reiste, hat - vor allem in der Santiagoer Gegend, wo tatsächlich Kämpfe der fast operettenhaften Kubanischen Revolution stattfanden - an jedem dicken Baum ein Revolutionsmemorial sehen können, wo Kämpfen und Kämpfern gedacht wird. Die Nordamerikaner gaben lange Zeit nicht so viel auf ihre eigene Geschichte, mickrige Gedenkstätten, versteckt in Brooklyns Prospect Park, wo nie ein Tourist hin kommt, wurden erst in den letzten Jahren wieder restauriert. Brooklyn fängt erst an, stolz auf "seine" Geschichte zu werden, die eben als die des Revolutionären Krieges begann. Nur wenige Stätten der Erinnerung können überhaupt in dem quirligen, seit zweihundet Jahren immer wieder neu überbauten Stadtteil wiedergefunden werden.

Brooklyn ist weiblich: "Brooklyn has more than her own place in the story of America", belehrt "blooklynonline.com" der Wynn Data Ltd., einer Consulting Firma mit "fairen Preisen". Klicken Sie auf deren Webcams, wenn Sie nichts besseres zu tun haben, kost nix und läuft mit Sonnenenergie, und sehen Sie herüber nach Brooklyn Heights! Die Brooklyn Bridge, die hier steht, wo Briten und Hessen die Amerikaner einst nach Manhattan hinüber trieben, in Ruderbooten über den East River, mündet hier in die Adams Street. Den Helden der Menschenrechte sind die Straßen und Parks gewidmet, Lafayette, Greene, Putman, nicht zu vergessen der tapfere Mordecai Gist aus Maryland, und der einfältige Knox, der mit den Kanonen in die falsche Richtung zielte und den Brooklynites deshalb nicht helfen konnte. Brooklyn hat "mythological proportions in the mind of the world" erreicht, also: es lohnt sich.

Die erste große Freiheitsschlacht nach den deutschen Bauernkriegen fand in Brooklyn statt, "The Battle of Brooklyn", von August bis Oktober 1776. Und ging ähnlich aus. Die Britische Flotte war schon im Juni in Staten Island gelandet, um der seit Anfang des Jahres ausufernden Rebellion der Kolonien Einhalt zu gebieten; die britischen Truppen und die hessischen Söldner mussten noch organisiert und orientiert werden, bevor sie losschlugen. New York war als eine geographisch in der Mitte der Kolonien gelegene Station zentral für den Krieg; Long Island und die schmale flache Festlandsküste gegenüber boten den ebenen Weg zu den nördlichen Neuengland-Staaten und dem schon befreiten Boston. Und New York (das heutige Manhattan) war nach Philadelphia die zweite Stadt, in der die Unabhängigkeitserklärung mit den Menschenrechten feierlich verlesen wurde -- obwohl die Vertreter des Staates New York ihr gar nicht zugestimmt hatten, als einzige, und wohl auch aus Furcht, ihr Land könnte der Kriegsschauplatz werden. "Die Macht kommt aus den Gewehren", singt Wolf Biermann, aber die Truppe von George Washington war anarchisch, die Männer fürchteten allenfalls ihren Gott, wenn überhaupt, bestimmt nicht die Vorgesetzten. Die Freiheitskämpfer waren aufgeteilt auf Manhattan und Brooklyn und der viel gerühmte American Rifle war doch nur ein müder Nachlader, als die Briten und Hessen auf 88 Fregatten bei Flaute über die Narrows setzten -- fast alle Nichtschwimmer, aber mit "military drill" und dem Sack voll Kadannz vor Kapitän und König. Taktisches Geschick überrumpelte die Amerikaner, die freiheitlich anarchisch in alle Winde flohen. Im heutigen Prospect Park, dem Schauplatz zweier wichtiger Schlachten, wäre diese große Hoffnung der Menschheit, die Amerikanische Revolution, nach ein paar Wochen schon fast zu Ende gewesen.

Mit Gottes Hilfe, glaubten sie, die als Wind aus den Grünen Bergen den East River hinunter wehte und die britischen Schiffe in der New York Bay hielt, könnt's gelingen, doch auf welchen Bläser war je Verlass!? Gottvertrauen wurde zu Washingtons größter militärischer Niederlage, die Amerikaner mussten schließlich Brooklyn und New York City den Briten überlassen. Und das alles wegen geklauter Wassermelonen, erzählt die Brooklyn Saga, weil die Briten sauer waren, dass man sie erwischt hatte mit der Teufelsfrucht der Brooklynites! 256 Amerikaner starben am Stone House, das während der Kämpfe mehrfach von beiden Kriegsparteien erobert und verloren wurde, nur 9 kamen raus aus dem Schauplatz des "heldenhaftesten" und "wichtigsten" Kampfes der Amerikanischen Revolution (meint die Consulting Firma), darunter der tapfere Mordecai Gist, der mit den letzten standhielt und an den keine Gedenktafel erinnert. Zwei Tage später räumte Washington Brooklyn (aber er hatte schon noch einen Koch dabei), weil es nun auch zu regnen anfing, tagelang, hoffnungslos, wie oft Ende August auf Long Island, während in der Bronx die Sonne bräunt.

Hübsche Gegend: "Evacuation Site"



Wo George Washington's 9 000 Mann nach Manhattan
rüber machten und durch Flucht die Revolution retteten, steht heute die Brooklyn Bridge und eine Gedenktafel, die den Touristen den "Battle of Brooklyn" erklärt.






No entiendo nada

Der Norden von Brooklyn ist heute Latino-Land, mit ein paar jüdischen und ein paar schwarzen Einsprengseln. Kaufen Sie sich hier ein amerikanisches Mobil-Telefon (say "Handy" and the answer is "No entiendo!", denn nur deutsche Rednecks gebrauchen scheinamerikanische Kunstworte, um sich zu fühlen), und die Gebrauchsanweisung ist auf Englisch und Spanisch. Diese Vorgehensweise, vom Kapitalismus erfunden, löst jedes Integrationsproblem. Und die Atmosphäre auf der Straße ist gleich viel freundlicher, wenn karibische Musik von überall her schallt. Wer das nötige Kleingeld in der Tasche hat, wird sowieso überall freundlich begrüßt.

Nur keine Scheu vor fremden Gassen, New York ist heute eine der sichersten Städte der Welt. An früheren Brennpunkten des Verbrechens hängen heute Sicherheitskameras. Hier wird jedenfalls kein Auto angezündet, obwohl die Gentrifikation - in Berlin heißt sie "Gentrifizierung", wie die "Elektrifizierung" in den 10er und 20er Jahren - schon breit stattfindet, sogar in den Wohngebieten der Ärmsten, und das sind hier die Hispanics. Nachdem die Sizilianer weggezogen waren, verfielen ganze Stadtteile von Nord-Brooklyn, schlimmer als in der Süd-Bronx. Drogenabhängige zogen ein, ganze Straßenzüge wurden niedergebrannt aus Spaß an der Freud der Pyromanie. Dann kamen puertorikanische und mexikanische Familien und bauten die Ruinen wieder auf. Ist das schon Gentrifikation? In den Großbäckereien werden jetzt Tortillas hergestellt, na und? Man spricht Spanisch auf der Straße und im Call-Shop, wo der Kreuzberger Tourist, der schnell mal Mutti am Starnberger See anrufen will, damit sie sein Bankkonto wieder auflädt, eher schlecht die richtige Verbindung bekommt. Der Rat an die Touristin ist: Beherrschen Sie die Sprache der Einheimischen besser, um im Nagelstudio bestens bedient zu werden.

Rassismus zwischen den Einwandererpopulationen bleibt ein großes Problem, und weil die Latino-Bevölkerung inzwischen den größten Anteil stellt, ist sie zu über 70 Prozent von den amtlich festgestellten Provokationen, Beleidigungen und Übergriffen betroffen. Weil sie kaum Englisch spricht, kann sie nicht mal zurück pöbeln.

Manchmal ist ein Reiseführer empfehlenswert, und wenn auf dieser Websseite Reklame gemacht werden darf, dann jetzt mal für den -- ADAC! Unter die Babtisten, Evangelikalen und orthodoxen Juden haben sich längst die Grünen und Alternativen gemischt, auf Brooklyns Broadway (ach, es gibt ja so viele Broadways in New York!) jagt ein Öko-Shop den nächsten Bioladen, und mit "Gluten-free" werben Bäckereien, die dies zusätzlich auf hebräisch schreiben. Auch eine Essensregel, an die man glauben kann oder nicht, genauso wie an Allergien, Rheuma und "ohne Pestizide". Der Aberglaube lauert überall, und unter Künstlern ist er bekanntlich weit verbreitet seit alters her.

Die Künstler waren es, die Williamsburg, den Nordwesten von Brooklyn, zur neuen Heimstatt der Bohème machten. Also: die Kinder der Reichen, die sich dieses Leben leisten können, oder wenigstens die der akademischen middle class. Und die haben nun mal in Massachussets, am Familiensitz, der zu Thanksgiving aufgesucht wird, ihr Auto stehen, nicht immer selbst "a Mercedes Benz", aber Daddy hat ihn; und man erbt ihn oder das Kleingeld dazu, wie bei uns, und die Autoclub-Mitgliedschaft sowieso, die wird weiter gegeben wie das Silberbesteck. Also ADAC. Der hat's gemerkt und die Zielgruppe der zeitweiligen Bauwagenplatzbewohnerinnen auf New York-Kurztripp entdeckt. Christine Metzger schreibt sich im "ADAC Reiseführer plus New York" (übrigens der einzige deutschsprachige, der einen brauchbaren Straßenplan von Brooklyn enthält; in der "Metropole" Berlin bekommt man heute nicht mal auf dem Ku-Damm einen Stadtplan von New York, der über Manhattan hinausführt und dabei lesbar bleibt) die Finger wund über "Gentrification" und was sie den schön schmudddeligen Stadtvierteln angetan hat, die so romantisch rotten waren (aber in denen man niemals das Kind großziehen würde, das selbstverständlich die Waldorfschule besuchen soll). Niemals, befand auch Wowereit, würde er seine Kinder, wenn er welche hätte, in eine Kreuzberger Staatsschule schicken, da, wo die Touristen in Bussen die 1.-Mai-Schäden besichtigen.

In die Lower East Side Manhattans, gleich gegenüber von Brooklyns Williamsburg, wanderten die Deutschen einstmals ein, bevor sie, reicher geworden, wieder auswanderten in den Mittelwesten der USA und den osteuropäischen Juden ihre Bruchbuden der Lower Eastside überließen. Die Juden sind weiter gezogen nach Williamsburg, auch wenn "Katz's Delicatessen" noch auf der Houston Street ansässig ist, jetzt als Touristenmagnet, und immer noch mit dem Kartonversand deutscher Wurst wirbt: "Send a salami to your boy in the Army!" Soll  das lustig sein? Hoffentlich lebt er noch, wenn das Päckchen ankommt in Bagdad, wo er die Ideen der Menschenrechtsdeklarationen "implementiert". (Oder doch nur den "Dollar, kling, kling, kling"? Gab es das je: eine Armee, die für die Gleichberechtigung der Frau kämpft!?)

Die bereits stattgefundene Gentrifikation (das böse Wort des Kreuzberg-Friedrichshainer Proterrorismus) in SoHo und dem East Village greift schon über nach Williamsburg, seinen vielen Little Puerto Rico Inseln und seinem Schtetl. Was Metzger für die ADAC-Mercedes-Benz-Kinder über das ehemals deutsche Dorf schreibt, das in den letzten zwanzig Jahren zum Gallerieviertel wurde, kann als Prophezeiung für Nordwest-Brooklyn gelten: "Es war anfangs wirklich eine Revitalisierung, die noch nicht die Züge der Gentrification trug." Die beschreibt sie so: "Diesen Prozess leiten ... in der Regel die Künstler ein, ihnen folgen die Galeristen, in deren Schlepptau sich exklusive Geschäfte, Boutiquen, Restaurants sowie angesagte Jazz- und Rockclubs ansiedeln". (Nicht zu vergessen die angesagte Antifolk-Szene, die jetzt schon in Williamsburg lebt, immer noch auf dem Lower-East-Side-Ufer auftritt, gleich um die Ecke von "Katz's", aber schon weiß: "clean walls lead to high rent"; für Metzger und den ADAC ist diese Szene noch unbekannt.) "Dann kommen die Immobilienhändler und vermarkten das 'Künstlerviertel'. Nun ziehen all jene zu, die den Wert einer kreativen Adresse zu schätzen wissen und die Nähe zur Boheme suchen: Banker, Werbefirmen, Zahnärzte und Rechtsanwälte. Zu diesem Zeitpunkt gibt es dann eine 'Szene', aber die Künstler sind bereits in das nächste Viertel weitergezogen, denn nur noch die Arrivierten können sich die ständig steigenden Mieten leisten. ... Die Gentrification erreichte (in SoHo) ihren Höhepunkt in der 'Shoppingmallisation'. Jeder Designer, der etwas auf sich hält, ist hier vertreten, überall regiert der Konsum, die Kunst spielt nur noch eine Statistenrolle." Hätten Sie so viel Gesellschaftskritik beim ADAC erwartet? Ihr Problem! Denn die Speerspitze des Kapitalismus weiß längst, was sie ihren Kindern in der Hausbesetzer-Szene schuldig ist. Die Touries aus Kreuzberg tummeln sich eben jetzt in Williamsburg, das noch ein bisschen so ist wie das Kreuzberger Viertel SO 36, wenn die Islamisten orthodoxe Juden wären. Aber in Kreuzberg jammert man schon über Gentrifikation!

Im nördlichen Teil von Williamsburg und nach Greenpoint hinaus werden jetzt gerade die noch billigen Wohnungen leer geräumt, die Häuser modernisiert und als Lofts vermietet an die Schickeria. "A distinct West European flavor" hat die New York Times Ende November 2008 ausgemacht, als sie über die Verwandlung von Williamsburgs Norden schreibt: "buyers from France, Germany, Italy and Britain" kaufen gerade die Gegend auf, "Europeanization" steht jetzt für Gentrifikation, die Käufer haben viel Geld. Und die neuen europäischen Einwanderer sind jung, wollen Familien gründen, suchen große Wohnungen für den grün-alternativen Lebensstil. Ins polnische Viertel, wo der Gedenkstein für den Pater Jerzy Popielusko steht und wo gleich gegenüber, wie vielerorts, mit einem Memorial an die Opfer der USA im Zweiten Welkrieg gedacht wird, zieht der akademische Mittelstand. Die Gentrifikation treibt hier ihre neuesten Blüten: zehnstöckige Häuser mit Tropenholz-Verkleidung außen und Luxusappartments innen, das Mercedes-Coupé vor der Haustür; ein Drittel der neu gebauten Eigentumswohnungen geht an Ausländer, die von der US-Immoblienkrise profitieren wollen.

Von den polnischen Einwanderern wird am Ende der Umbauphase vielleicht noch das Zywiec-Bier bleiben, das hier der "Szene" so gut schmeckt wie in Kreuzberg. Kneipe reiht sich an Kneipe, Edelboutique neben Edel-Ristorante, um den nördlichen Teil der Bedford Avenue bildet sich neben Manhattans Lower Eastside das neue hippe Vergnügungszentrum von New York City heraus. In den Seitenstraßen entstehen neu oder aus Umbauten edle kleine Stadtvillen mit Carport und Dachgarten, manche Straße wird privatisiert und mit Gittern abgesperrt. Manhattan ist weitgehend ausverkauft, jetzt kommen Williamsburg und Greenpoint dran, wo New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg neue Bebauungspläne und neue Hochhäuser durchgesetzt hat. Die Veränderungen Manhattans im East Villiage in den 70ern und auf der Lower Eastside in den 80ern und 90ern kommen nun über den East River herüber nach Brooklyn. Vorbei das billige Wohnen, die Künstler ziehen schon weiter östlich nach Bushwick an die Grenze zu Queens und mischen sich unter die Hispanics. Aber auch in Bushwick, zwanzig Minuten U-Bahnfahrt von Williamsburg, wo jedes Haus noch einen bepflanzbaren Backyard mit Wäscheleine hat, wird schon saniert und renoviert, denn auch Brooklyn wird bald ausverkauft sein. Europa ist reich. Die Erben, die keine Erbschaftssteuer mehr zu bezahlen brauchen, müssen ihre Millionen anlegen, und für 300 000 Euro bekommt man in Williamsburg schon (jetzt noch) eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad in einer ruhigen neighborhood.





In the Ghetto

Auch die Nachkommen der "Einwanderer", die nicht freiwillig kamen, nicht aus Verzweiflung und nicht mit Hoffnungen, sondern in Ketten, leben noch im Norden Brooklyns, wenngleich sie mehr und mehr von den Hispanics verdrängt werden. Mit Washington, Detroit, Cleveland oder Chicago haben Großstädte des Nordens weit größere Anteile von Schwarzen an der Bevölkerung als New York City, dennoch ist die Hauptstadt der Welt immer noch auch eine Haupt-Stadt der Afroamerikaner. Ein Viertel der Bevölkerung New York Citys ist schwarz, doch die Latinos könnten bald einen größeren Teil stellen.

In Brooklyn haben um die 35 Prozent Vorfahren aus Afrika. In Williamsburg sind sie nicht so zahlreich, hier kommt die Hälfte der Bewohner aus Puerto Rico, der Dominikanischen Republik und zunehmend aus Mexiko, die andere Hälfte teilt sich auf die anderen kulturellen Gruppen: die neuen reichen Europäer mit Euro und Pfund in der Tasche, die alt eingesessenen Polen, die orthodoxen Juden, ein paar noch verbliebene Leute mit italienischem und ein paar hinzu gekommene mit asiatischem Ursprung, und dann all die neuen grün-alternativen Künstler, Mode-Händler, Kneipiers und Folk-/Antifolk-Musiker, viele aus dem liberalen Judentum Manhattans stammend, freilich ohne religiöse Bindung. Im Nordosten Brooklyns liegen Schwarzen-Siedlungen, oftmals Hochhäuser aus den 50er, 60er und 70er Jahren, aber wirkliche Schwarzen-Ghettos gibt es nicht mehr. Wenn George und Ira Gershwin, Kinder russisch-jüdischer Einwanderer und in Brooklyn geboren, die Bilder für ihre Oper "Porgy and Bess" in ihrem Geburtsort gefunden haben, dann wohl eher downtown und im Süden.

Nur hier und da trifft man in Williamsburg auf Straßenszenen, die auf der Catfish Row des ausgehenden 19. Jahrhunderts weit unten im Süden in Charleston/SC spielen könnten, wo die Gerschwin-Brüder die Handlung der ersten und wichtigsten "amerikanischen Oper" angesiedelt hatten, die sie "folk opera" nannten und die im afroamerikanischen Milieu spielt. Aber es gibt diese Straßenszenen, so wie es in Brooklyn eben alles gibt, was eine ganze Welt im Kleinen bieten kann. Die Schwarzen waren die Mitbegründer der USA, aber ihre Lage verschlechterte sich noch in der Apartheid-Zeit des frühen 20. Jahrhunderts, als die weißen Rassisten jeder Herkunft mit gesetzlichen Rassentrennungen gegen den sozialen und zivilen Aufstieg der Afroamerikaner kämpften. Erst Mitte der 60er Jahre wurden die letzten gesetzlichen Diskriminierungen beseitigt, die soziale Diskriminierung aber wird noch Generationen weiter andauern.

Toleranz wird in Brooklyn beansprucht, Rassismen jeder Art bleiben in den eigenen vier Wänden, weil sie öffentlich nicht geduldet sind. Jede Einwanderergruppe hat Vorbehalte gegen jede andere, die älteren sind gegen die Neuankömmlinge, immer schon, und das trifft heute die Latinos, die aber auch zum Teil schwarz sind. Keine Kategorie der Integrationspolitik kann die Situation adäquat beschreiben: nicht Ethnie, nicht Heimatkultur, nicht Sprache, und Rasse schon mal gar nicht. Die Kulturen und Ethnien der Schwarzen, die aus vielen verschiedenen Gegenden Afrikas hierher verschleppt worden waren, wurden zwangsegalisiert von der Sklaverei; die vielen Sprachen der Juden, die über die Jahrhunderte aus allen Teilen Europas hierher immigrierten, verschwanden in der Übernahme des Englischen oder egalisierten sich im Versuch, eine jiddische Identität in Abgrenzung zu anderen Immigranten zu entwickeln.

Schwarze gegen Juden und Juden gegen Schwarze, ein ganz altes Ressentiment: man erkennt es immer noch am demonstrativen Nebeneinanderher, Sichnichtwahrnehmen im Alltag, der die Realität hinter der aufgesetzten Solidarität liberaler Juden der "weißen" amerikanischen Oberschicht mit dem Präsidentschaftskandidaten Barack Hussein Obama ist. Solidarität der Vertriebenen und Verfolgten über die Grenze der eigenen Kulturgruppe hinweg ist keineswegs die Grundtugend der US-amerikanischen Gesellschaft.

Dass es vielen Schwarzen in Brooklyn nicht gut geht, sieht man auf der Straße, auch wenn zum Schulanfang im September ganz plötzlich viele schwarze Jugendliche der herangewachsenen Mittelschicht aus der Highschool kommen und ein anderes Bild zu zeigen scheinen, jedenfalls downtown und im geographischen Zentrum von Brooklyn, wo damals der Battle der weißen Amerikaner mit den Engländern und Hessen stattfand.

Im Übergang von Williamsburg nach Bushwick, wo die Flushing Avenue und die Myrtle Avenue den Broadway von Brooklyn kreuzen, herrscht Armut, bei den alt eingesessenen Afroamerikanern ebenso wie bei den sie verdrängenden Hispanics. Hier rattert die Hochbahn der Subway noch lauter und überkreuzt sich selbst auf zwei Etagen, hier sind die Straßen und Häuser noch schlechter, hier sind die Schulen, in die die schwarzen Kinder gehen, kaputt und dreckig. Viele Schwarze in Brooklyn sind aus Enttäuschung über das Ausbleiben der materiellen Gleichstellung in den letzten Jahren zu radikalen Moslems konvertiert und haben eine Bewegung erfolgreich gemacht, die zu Zeiten von Malcolm X noch auf breites Unverständnis stieß.

Dass die europäische Uraufführung von "Porgy and Bess" 1943 in Kopenhagen unter hohem Risiko gegen das Verbot der deutschen Besatzer durchgesetzt wurde, lernen die schwarzen Kinder hier nicht; was die SS war, wissen aber auch die Kinder der orthodoxen Juden meist nicht, und die hippen Kinder der liberalen Juden schon gar nicht. Das Spiel mit Nazi-Symbolik ist in den USA weit verbreitet, und den Nachwachsenden bedeuten die Symbole nicht mehr viel anderes als eine Piratenflagge: Grusel tritt an die Stelle von politischem Bewußtsein.



Trembling Before God

Vornan in Williamsburg, gleich an der Brücke, rund um Marcy Avenue, mehr noch in der Bedford Avenue, wo sie noch nicht von den Clubs und Kneipen gentrifiziert wurde, quasi gleich gegenüber von Manhattan und der bei Touristen jetzt so angesagten Lower East Side, - kommen Sie rüber, es ist nur eine U-Bahn-Station von Manhattan entfernt! Oder gehen Sie zu Fuß über die Williamsburg Bridge mit dem atemberaubenden Blick auf die Skyline Manhattans! - ist nicht jeder Zweite auf der Straße ein orthodoxer Jude, sondern manche Straßen wirken zu manchen Tageszeiten wie's Schtetl oder das Ghetto, als das Wort noch nicht mit dem Entsetzen über das, zu dem die Deutschen, wenn sie in Massen auftreten, fähig sind, verbunden war. Hier stehen Wohn-Hochhäuser der vierziger und fünfziger Jahre, die die Dörfer des Schtetl ersetzen. Die ganze Gegend ist fest in jüdischer Hand, ist eine dauerhafte Bleibe geworden für Einwanderer, die als Flüchtlinge kamen. Das Erstaunen über Tracht und Sitten ist rein deutsch, weil fast die letzten orthodoxen Juden in Berlin an den Deportationszügen in die Vernichtungslager gesehen worden sind. Gern geht man heute durchs Berliner Scheunenviertel, gern bildet man sich was ein auf seine "Ohhh!"-s und "Ahh!-s", "Ach, hier war die Rosenstraße aus dem Film!", aber "die da" aus Brooklyn bei uns in der Nachbarschaft, und gleich so viele?!

Manchen der hier sehr zahlreichen Chassiden ist die Angst vor ihrem Gott ins Gesicht geschrieben, manche laufen sehr therapiebedürftig über den Sidewalk, zackig, verklemmt, werfen Arme und Beine so auffällig von links nach schräg, als wollten sie sicher gehen, dass ihr Gott sie auch bemerkt. Unter der extremen sozialen Kontrolle ihrer jüdischen Sekten scheinen manche fast zusammenzubrechen. Nur die Rabbiner dazwischen lächeln sanft und milde, mit sich im Reinen. Ganz viele, erstaunlich viele männliche Jugendliche und junge Männer laufen in dieser Kleidung umher (weibliche Jugendliche sieht man kaum, die bleiben zu Hause), die denen seltsam erscheinen mag, die aus dem von ihren Vorfahren "judenfrei" gemachten Deutschland kommen. Man kann in die Wohnungen hinein sehen, abends, wenn es drinnen hell und draußen dunkel ist. Alles ist offen sogar im Parterre, hier ist ihr Land, hier sitzen sie for all to see im Easy Chair am Feierabend mitten in ihren Großfamilien, den hohen Hut immer noch auf dem Kopf. Die Männer herrschen in den Familien, aber das scheint ihnen auf der Straße nicht immer Selbsbewußtsein zu geben. Die Frauen tragen in der Öffentlichkeit Perücken oder Kopftücher, triste Kleidung, keine Farben, allenfalls ein dunkles Blau. Husch, husch verschwinden sie in die Häuser, draußen die böse Welt? Viele Kinder, ebenfalls meist ohne Farben gekleidet, jedenfalls niemals bunt, scheinen sich ängstlich an die Mütter zu schmiegen, lassen die Hand niemals vom Kinderwagen des kleinen Geschwister, und jede Frau im gebärfähigen Alter scheint hier einen Kinderwagen zu schieben, an dem sich rechts und links noch zwei Kleinkinder festhalten. Die Frage, ob es ein hässlicher Gott sein muss, der seine Kinder in hässlichen Klamotten rumlaufen lässt, braucht den Ungläubigen nicht zu interessieren. Und dem Gläubigen ist sein Gott immer schön. "Bei mir biste scheen" ist ein jiddisches Lied von großer Lebensfreude. Wer keinen Sinn fürs Religiöse hat, wird kein Verständnis für die Tracht- und Lebenssitten der Gläubigen finden, allenfalls eine Toleranz des "live and let live", solange die staatlichen Regeln beachtet werden.

Das wäre nicht wenig, das war von Anfang an der Sinn der Freiheitsrechte und der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, die eben voller Absicht keinen Gottesbezug enthält. Die europäischen Konservativen, die in die Verfassung der Europäischen Union unbedingt diese Ableitung allen Rechts von einem Gott hinein geschrieben haben wollten, haben das immer noch nicht begriffen. "In God We Trust" steht eben nur auf dem Dollar-Schein, nicht in der Verfassung, und auch auf dem Geldschein bleibt die Frage: Welcher Gott? unbeantwortet, egal, welchen Schwachsinn über "Illuminaten" sich die Antisemiten und Verschwörungstheoretiker von Tobi Blubb bis Jan van Helsing zum Dollar haben einfallen lassen. Die heutigen US-Geldscheine sind sowieso erst von 1935, und die meisten Köpfe, durch deren zugehörige Hände die Scheine gehen, wissen ohnehin nichts von der Symbolik, wenn sie nachzählen, ob sie sich den Hamburger überhaupt noch leisten können. Und? Was bemerkt? "Vom Juden" kommt der Deutsche immer gleich aufs Geld, das ist ein ewiger Fluch des Antisemitismus.

Bleiben wir lieber bei Vergil und Jefferson, dann bezieht sich "Novus Ordo Seclorum" vom Geldschein auf das neue Zeitalter der Menschenrechte für "We the People". In Brooklyn, der größten jüdischen städtischen Siedlung weltweit, haben auch die Chassiden ein Refugium gefunden, die vor den Pogromen in Russland gottseindank nicht ins preußische Berlin, sondern ins sichere New York flohen. 40 Prozent der "weißen" Bevölkerung Brooklyns soll heute jüdische Vorfahren haben, aber die meisten jungen Leute sind hier so jüdisch, wie die Kreuzberger und Friedrichshainer Studentinnen und Studenten christlich sind: Bohème. Dennoch war der 11. September 2001 ein Angriff auf die jüdischen Menschen und das Judentum schlechthin; das versteht man erst so richtig, wenn diese vielen Menschen sichtbar werden auf der Straße, weil sie sichtbar sein möchten in ihrer Tracht und mit ihren Sitten, wo sie gefahrlos sichtbar sein können, auch wenn sie nur eine kleine freilich auffällige Minderheit sind unter den vielen New Yorker Juden des "ganz normalen" Woody-Allen-Bob-Dylan-Milieus.


Ja, das stimmt wohl: manches Kind wird lieber in hippen Klamotten rumtoben wollen statt in einer alten Tracht, die ausgrenzt und einsperrt, brav am Händchen gehend, mit Schläfenlöckchen wehend im Wind. Aber denken Sie mal an Ihr Kommunionkleid aus den 60ern! Oder an das "Junge-Pioniere"-Hemd und den Zwang, sich den Arm zu dem idiotischen "Junge Pioniere"-Gruß zu verrenken! Wer dem Islam vorwirft, keine Aufklärung zu haben, sollte das orthodoxe Judentum nicht vergessen, aber auch nicht die Anti-Aufklärung der Realsozialisten. Die Menschenrechte, an deren Entwicklung Moses Mendelssohn in Berlin mitwirkte - gekleidet wie "die da" in Brooklyn, als er nach Berlin kam! -, sind nicht das Ziel von Religionen, auch wenn sie am ehesten vom - der neuheidnischen Rechten ach so verhassten - "Judao-Christentum" befördert wurden. Und behindert.

Manch Gotteshaus wäre noch auf Abriss zu verkaufen wie einst Saint Jacques in Paris, bevor die Ziele der Amerikanischen und der Französischen Revolutionen am Horizont aufscheinen wie die rote Sonne auf den Fahnen der Sozialisten. Das Lied scheint niemand zu singen in Brooklyn, obwohl es hier vielen ökonomisch schlecht geht und Fundamentalismus jeder Kulör Konjunktur hat: "... kein Gott, kein Kaiser noch Tribun / Uns aus dem Elend zu erlösen / Können wir nur selber tun". Etliche Kämpfer der Kontinentalarmee Washingtons wussten das schon. Ihr Denkmal, mit Georgie hoch zu Ross, steht heute mitten unter den Trachtenträgern, die ihre Frauen genauso schlecht behandeln mögen wie lateinamerikanische Machos und  schwarze Rap-Fans und die vielen, vielen Islamisten New Yorks, allesamt Brooklynites, die ihren "Lebensstil" frei leben können. Washingtons Pferd scheut nicht, wenn das Denkmal heute den Skatern zur Übung dient. Kämpfe müssen immer wieder neu ausgefochten werden. Frauen, die sich physisch und psychisch mit den Geburten von fünf oder acht Kindern ruinieren müssen, weil die Religion es verlangt - hier mal gerade die jüdische, dort die muslimische, und sonst wo die katholische, mormonische, baptistische -, werden zweifellos missbraucht. 


Gemach: Auf den Spiel- und Bolzplätzen von Williamsburg rennen Jungen in weißem Hemd und schwarzer Hose, mit Schläfenlocken und Kippa beim Fußballspiel umher, toben, reißen sich und halten sich gegenseitig fest und haben Spaß wie überall auf der Welt. Männer haben es eben in allen Religionen besser. Auf der Straße steht ein Lautsprecherwagen für den Wahlkampf, aus dem es in einem Mix aus Englisch und Jiddisch tönt: "Vote for change. A jeijde Schtimme for Daniel Squadron", den von der "New York Times" unterstützten Kandidaten für den Landes-Senat von New York State. Jiddisch ist hier die normale Sprache, wie im Viertel gegenüber Spanisch. Das überrascht nur den, der nicht mehr daran denken mag, dass Jiddisch auch und selbstverständlich die Sprache des Berliner Scheunenviertels war. Und in New York gibt es sogar eine Synagoge für Schwule, was immer das bedeuten soll. Jüdisches Leben, geschützt von der Militärmacht der USA, ist hier so vielfältig, wie Leben eben überhaupt ist.  Wie sich menschliches Leben entfalten kann ohne die Angst vor antisemitischen Pogromen, aber unter der Angst vor materieller Armut. "We the People" auf engstem Raum.
(September 2008)

Continental Army Plaza:



Die Kontinentalarmee der dreizehn sich für unabhängig erklärten Staaten musste Brooklyn im Revolutionären Krieg am 27. August 1776 räumen. Washingtons Reiterstandbild (im  Hintergrund) auf der "Continental Army Plaza" vor der Subway-Auffahrt zur Williamsburg Bridge nach Manhattan wurde erst beim Bau der Brücke zur Wende aufs 20. Jahrhundert aufgestellt, obwohl der Platz so spätbarock aussieht. Er ist heute die nördliche Grenze zwischen dem Chassiden- und dem Latino-Viertel.
Von Revolution ist auf diesem Platz nicht weiter die Rede, aber Skater zeigen, was es heißt, sich frei zu fühlen.















"The Lady":



Weit weg: "Liberty Island" mit der Freiheitsstatue in der Bucht von New York, von Brooklyn aus gesehen. Unsere Gute Frau Freiheit stand einmal für die Hoffnungen der Einwanderer; die Ghettos von Brooklyn und der Bronx stehen heute für die Realität.

Gar nicht in Brooklyn, sondern in Philadelphia:



Die säkulare Reliquie des US-amerikanischen Freiheitsglaubens, die "Liberty Bell", deren kitschiger Verehrung Bob Dylan in seinem Lied "Chimes of Freedom" die harte soziale Wirklichkeit entgegen setzte, wird streng bewacht -- "in der Nacht, und besonders - in der Nacht!" (sang Wolf Biermann an anderer Stelle damals über die säkulare Verehrung des "Volkseigentums"). Auf der Glocke, die aus der Kolonialzeit stammt und erst im 19. Jahrhundert von den Gegnern der Sklaverei zur "Freiheitsglocke" umgewidmet wurde, steht ein Spruch aus dem Alten Testament: "Proclaim LIBERTY throughout all the Land unto all the Inhabitants thereof" (3. Buch Mose - Levitikus - 25,10. Der Spruch bezieht sich in der Bibel auf ein Gebot Gottes an Moses, das fünfzigste Jahr nach der Ankunft der Israeliten im Gelobten Land zu einem Jubeljahr und "Freijahr" zu machen, in dem nicht gearbeitet werden soll.)

Die Freiheit muss erst noch wach geküsst werden:



In einen Schneewittchensarg aus Glas und Stahl hat man die Freiheitsglocke neuerdings gestellt (Vordergrund). Im Museum, das die Touristen zuerst durchlaufen müssen (flacher Bau rechts), bevor man sie zur Reliquie vorlässt, wird die Geschichte der Glocke erzählt: "America's Liberty Bell - The World's Symbol for Liberty" hat man in die Granit verkleideten Wände des Museums meißeln lassen. Fotos von prominenten Glocken-Besuchern - sind es 'Prinzen', die vorgeben, die Freiheit wach küssen zu können?, vom Dalai Lama bis zum Indianerhäuptling, Vertreter archaischer Gemeinschaftsformen, denen das aufgeklärte Konzept der Freiheit des Individuums wesensfremd ist! - sind hier ebenfalls ausgestellt:

Wundertätige Wirkung?



Häuptling Little Bear von den Black Feet Indianern berührt 1915 die "Liberty Bell" an ihrer empfindlichste Stelle, der Ritze.
Foto aus der Ausstellung zur Geschichte der Glocke im "Liberty Bell Center" des neuen "Independence National Historical Park" in Philadelphia, eines mehrere  Quadratkilometer weiten Campus, auf dem neuerdings "our Colonial, Revolutionary, and Federal-period heritage", das schließlich zur Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika führte, den Touristen nahe gebracht wird, unter der tausendmal wiederkehrenden Formel "We The People", den ersten drei Worten der Verfassung der USA.
Gezwungen sich zu entscheiden zwischen Segregation und einer Assimilation, die auf der Unterdrückung ihrer einzigartigen Kultur beharrte, hätten die "Native Americans" wohl nicht die Hoffnung auf gerechte Behandlung und gleiche Rechte gesehen, die von der Glocke verkörpert werde, bemerkt der Kommentartext zu dem Häuptings-Foto in der Ausstellung scheinkritisch.

"We the People", Verfassung zum Selberschreiben:



Ja, das ist Freiheit! Ein "Document Writing Set" mit Dokumentenpapier, Gänsekiel-Schreibfeder und Instant-Tintengranulat ist der Verkaufshit im Andenkenladen des "National Constitution Center" von Philadelphia (unten links, mit dem Schriftzug der ersten Worte der Verfassung an der Wand: "We the People")  ...



... gleich neben der staatlichen Münze (rechts) und eine gefühlte Meile weit weg vom "Liberty Bell Center". Wer ist das Volk, Freiheit für wen?

Die Revolution auf dem Esstisch, erstarrt:





Schmuckteller und Biedermeier-artige Bildstickerei aus der Ausstellung zur Verherrlichung der Freiheits-Reliquie. Die können ihre Geschichte abfeiern, diese Amis! In Philadelphia ziert die Reliquie der Freiheit sogar das Straßenpflaster, zum Drauftreten:













"Battle of Brooklyn" -- Ergreift sie!



Das war ja klar: Die Melonen sind schuld! In großen Mengen bis heute genossen (und das Obst und Gemüse schmeckt hier auch viel besser als bei uns!), konnten schon die englischen Soldaten nicht den Brooklynite Melons widerstehen: Diebe im Felde,  arretiert von mutigen Amerikanern, eine Schwadron englischer Kameraden wollte sie befreien -- und schon bricht der schönste Revolutionäre Krieg los!

Prospect Park Memorial:



Geschossen wurde dann aber scharf, nicht mit Melonen. George Washington verlor hier hunderte tapfere Männer, die aus Maryland gekommen waren, um als Freischärler ihre neue Freiheit zu verteidigen. Eine ziemlich schäbige Säule (oben) mit verrotteter Vorderseite (unten) steht am Schlachtfeld, wohin sich kein New York-Tourist verirrt:



"Zu Ehren der vierhundert Marylander, die auf diesem Schlachtfeld am 27. August 1776 die Amerikanische Armee retteten", hieß es einmal auf dem Sockel der Säule.
Am "Stone House" in der Nähe des Prospect Park, das Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts "aus alten Steinen wieder aufgebaut" wurde, wie es heißt, und heute ein Museum des "Battle of Brooklyn" ist, das allerdings kaum ein Brooklynite kennt, kämpfte Mordecai Gist mit anderen Marylandern, die im erbitterten Hin und Her fast alle starben:



Ein dritter Trupp stand ein paar Meilen weiter in einer Schlucht namens "Porte" im heutigen Prospect Park, fällte die alte Grenzeiche aus der frühen Kolonialzeit, die nach dem britischen Gouverneur als "Dongan Oak" bekannt war, und machte daraus eine feine Wegsperre gegen die Engländer und Hessen unter dem hessischen General Philipp von Heister, so dass Washington genügend Zeit gewann, den Großteil der Kontinentalarmee über den East River nach Manhattan zu entsetzen. Die Amerikaner von der alten Weiß-Eiche flohen mit ihren beiden Kanonen, als die Kontinentalarmee in Sicherheit war. Ein Gedenkstein erinnert daran:


















Gibt es Revolutions-Lektüre auch auf Spanisch?






Puerto Rico ist im Norden und Nordosten Brooklyns überall (oben und unten: im Latino-Zentrum von  Brooklyn-Bushwick), und mehr als die große Freiheit interessiert allemal das kleine Glück. Wo die Jungfrau von Guadelupe gleich neben der Linda von Mexiko hängt, ist die Revolution weit weg, ...



... der Große Bruder freilich nah; hier eine der vielen Sicherheitskameras auf den Straßen Brooklyns, an einer Kreuzung in Bushwick, wo vor ein paar Jahren die Nachbarn noch über den Haufen geschossen worden waren:



"I pity the poor immigrant
When his gladness comes to pass" (Bob Dylan)




Wandmalerei in Brooklyn-Williamsburg. Die jüngste Einwanderungswelle in die USA schwappt aus der Karibik.

Gentrification in Brooklyn-Williamsburg...



... mal kleinbürgerlich (oben), mal hip:



Diese Glasfassade (oben) an der Graham Avenue von Williamsburg hat es sogar schon auf ein CD-Cover der Antifolk-Szene geschafft: die Platte heißt "Brooklyn Is Love".



Tropenholz an Luxusappartment (oben), die akademische grün-alternative Mittelschicht greift nach Williamsburg und Greenpoint.
Und welches Bier trinkt der hippe Szene-Tourist aus Kreuzberg an der Nassau Avenue, bevor er in die U-Bahn Linie G fällt?



Zywiec, wie am Kotti!





Schwarzes Armutsleben unter der und neben der Hochbahn, meilenweit, am Broadway von Brooklyn:







Der Broadway ist die Haupt-Einkaufsstraße der Armen in Williamsburg.



Arme Schwarze und Latinos bilden heute gemeinsam die Straßenszenen wie vor Jahrzehnten:



Die schwarze Mittelschicht lebt im besseres Teil von Brooklyn ...



... wo die Armen nun den Boy für die Ihren geben:



Straßenkehrer vor dem Art-Deko-Bunker der "Brooklyn Public Library", in der heute auch die schwarze Mittelschicht studiert.





In Brooklyn-Williamsburg ist jüdisches Leben so sicher wie in Israel:



Orthodoxe Juden bestimmen das Straßenbild. Der  Chasside ist stolz auf seine zahlreichen Nachkommen und schiebt gerne selbst den Kinderwagen. Ist das Emanzipation des Mannes? In Brooklyn spricht die Ambulanz wahlweise Jiddisch oder Hebräisch:



One Way road zu Gott, den Supermarkt führt ein Hispanic ...



... der gegenüber ist koscher:



Das Judaica-Geschäft braucht in Williamsburg kein Gitter, wie etwa in Berlin ...



... und hat Poster mit den seit Jahrhunderten hoch verehrten Rabbinern im Schaufenster (rechts neben der Eingangstür und unten):



Schulbus und Hutträger:



Wahlplakat für den lokalen Kandidaten, der Jiddisch spricht und von der New York Times unterstützt wird:
























Talking History (MP3-Datei):
"Oh, did you hear, like, some aeroplane just crashed into the World Trade Center!"


Am siebten Jahrestag des Anschlags auf das Judentum und jüdisches Leben in New York zeigt sich das Gedenken typisch amerikanisch, mit Stelzengängern, die sich als Freiheitsstatue verkleidet haben, am provisorischen 9/11-Memorial im Battery Park an Manhattans Südspitze:



Der Sinnspruch auf dem Sockelgebäude der New Yorker Freiheitsstatue, "The New Colossus", stammt von Emma Lazarus: "Send Theese, the Homeless, Tempest-Tost to Me. I Lift My Lamp Besides the Golden Door!" Der Staat Israel hat ihr im Battery Park mit Blick auf Liberty Island einen Gedenkstein aufgestellt.
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