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Ein Angriff auf die Linke:

"Wege zum Glücklichsein"
 
Die Sekten-Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages dokumentiert in ihrem Abschlußbericht das neue totalitäre Weltbild einer ganz großen Koalition
 
Von Peter Kratz

(Der Artikel erschien zuerst in KONKRET Nr. 8/1998.)

Zeitweise bestimmte in den letzten zwei Jahren die kleine Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" des Bundestages die internationale Debatte um das Demokratieverständnis der Deutschen, denn sie war neben dem langjährigen Funktionär rechtsradikaler Sekten Ralf Bernd Abel überwiegend mit erzkonservativen Berufs-Christen besetzt (vgl. den vorhergehenden Artikel aus KONKRET 12/96) und tagte zumeist unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Ihre Aufgabe, durch Bundestagsbeschluß bestimmt, war in der Welt der westlichen Demokratien einzigartig: auszukundschaften, wie Religion und Weltanschauung staatlich reglementiert werden könnten. Das Referat Öffentlichkeitsarbeit des Bundestags sah sich nach mehr als einem Jahr mißtrauisch beäugter Kommissionsarbeit sogar veranlaßt, eigens ein Faltblatt herauszubringen, um die Gemüter zu beruhigen - das gab es bei keiner anderen Enquete-Kommission. Jetzt hat das Gremium mit einem "Endbericht" öffentlich gesprochen: Das Grundrecht der Religionsfreiheit, mit dem bürgerliche Revolutionäre die aufständischen Massen von der Forderung nach sozialer Gleichheit ablenkten, bleibt unangetastet, Artikel 4, Absatz 1 des Grundgesetzes wird nicht geändert. Damit ist die "Sektenpolitik" der Sozialdemokraten, die als erste nach dieser Kommission verlangt hatten und sie im Bundestag durchsetzten, gescheitert.

Denn das erklärte Ziel der "sektenpolitischen Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion" (so ihre offizielle Bezeichnung) Renate Rennebach war es, nach der Einschränkung der Grundrechte der Kriegsdienstverweigerung, des Brief- und Telefongeheimnisses, der Berufsfreiheit und der Freizügigkeit (Notstandsgesetze), des Asyls, der Unverletzlichkeit der Wohnung (Lauschangriff) nun auch das zu regeln und »unter Gesetzesvorbehalt« zu stellen, was bisher noch frei war: die Gedanken. "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet", heißt es bisher im Grundgesetz. Hinzugesetzt werden sollte, wie schon bei der Kriegsdienstverweigerung, der Satz: "Das Nähere regelt ein Bundesgesetz" - und zwar mit einfacher Mehrheit. Rennebach wollte diese Verfassungsänderung ausdrücklich deshalb, "damit nicht jeder sagen kann, er sei Jesus" - in der Tat ein einleuchtender Grund, den sie der "Berliner Zeitung" im August 1996 verriet. Im Januar 1998 erklärte sie der Wochenzeitung "Freitag", ein Gesetz müsse her zur Regelung auch des "persönlichen Bereichs" des Menschen, der "Wege zum Glücklichsein oder was weiß ich, wie sich das nennt".

Wie das Heilpraktikergesetz der Nazis der medizinischen Volksgesundheitspflege einen rechtlichen Rahmen gab - er besteht bis heute -, so sollte nun die Herrichtung des Volksbewußtseins "nicht dem freien Spiel der Kräfte überlassen" bleiben, wie es der "Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen" der evangelischen Rheinischen Landeskirche, Joachim Keden, unlängst ausdrückte. Der Bericht der Enquete-Kommission, Bundestagsdrucksache 13/10950, 602 Seiten dick, gibt auf den ersten Blick Entwarnung. Die ist wohl vor allem an die Westalliierten des Zweiten Weltkriegs gerichtet, die doch den Deutschen nach dem 8. Mai 1945 erst wieder demokratische Grundsätze hatten beibringen müssen und jetzt ihr Unverständnis der deutschen Sekten-Debatte nicht verhehlten. Vielfach betont die Kommission nun - sehr abstrakt - die religiös-weltanschauliche Freiheit des Individuums und die staatliche Neutralität, doch der Bericht ist ambivalent. Liest man ihn genau, so sieht man: Er öffnet Möglichkeiten für eine umfassende Gesinnungs- und Verhaltensüberwachung. Das ist etwas völlig Neues in einem offiziellen Dokument des Deutschen Bundestages, das eine Mehrheit aus CDU/CSU, SPD und FDP zustimmend zur Kenntnis genommen hat. Gleich zu Beginn macht die Kornmission ihre totalitäre Gesellschaftsauffassung deutlich: Sie ist der Ansicht, jede Art gesellschaftlicher Konflikte sei generell negativ zu werten und auf jeden Fall zu vermeiden. Der gesamte Bericht steht unter der Prämisse der Konfliktvermeidung, die durch staatliche Beobachtung möglicher "Konfliktfelder" und notfalls durch gesetzliches Eingreifen über Verbote und Bestrafungen durchgesetzt werden soll. "Konfliktträchtig" und damit Objekt staatlichen Handelns seien "dissidente Weltanschauungen" und "deviante Lebensformen". Die Definition bleibt allgemein, und das macht sie so gefährlich: "Gemeint sind damit von den sozial-kulturell allgemein akzeptierten oder zumindest tolerierten Lebensanschauungen und Wertüberzeugungen deutlich abweichende Überzeugungen und eine von allgemein praktizierten oder zumindest tolerierten Lebensformen signifikant abweichende Lebenspraxis."

Ziel der Kommission ist das angepaßte Individuum in der formierten Gesellschaft, ohne daß der Bericht jedoch die Norm ethisch definiert hätte. Er hat schlicht die Abweichung »von der Umwelt« im Auge, was immer das sein soll, und nennt als Gegenpol die "gelungene Integration und Anpassung einer Gruppe". Ein derart eindeutiges Bekenntnis zur Konformität als Gesellschaftsziel hat es in einem Bundestagsdokument bisher nicht gegeben, und man kann bezweifeln, ob es eine Mehrheit fände, wenn es eine Debatte über die Details des Berichts gäbe. Das Dokument paßt aber in die Zeit, in der Teile der Herrschenden die Homogenisierung des Volkes fordern und betreiben, z. B. über das Ausländerrecht. Erschreckend ist auch die Aufzählung der "Konfliktfelder", in denen der Bericht gegebenenfalls staatlich reglementierendes Handeln für nötig hält: "der Umgang der Gruppe mit Sexualität, das Verständnis von Ehe und Familie, Fragen der Kindererziehung, Einstellungen zu Wirtschaft und Politik", und schließlich am Satzende: "und anderes", also praktisch alles. In einem Sondervotum machen sieben SPD-Mitglieder der Kommission - darunter neben MdB Rennebach (Berlin) auch die "Sachverständigen" Hansjörg Hemminger (Evangelische Kirche Württemberg), Bernd Steinmetz (Richter am Landgericht Hamburg) und Hartmut Zinser (Religionswissenschaftler der Freien Universität Berlin) - die Norm klar, von der nicht abgewichen werden soll: Der "Widerspruch" der Dissidenten zu "den vornehmlich christlich geprägten Werten und Normen in unserem Land ... muß in der politischen Diskussion zukünftig einen höheren Stellenwert erhalten. Sonst sind eine weitere Ausbreitung der konfliktträchtigen Gruppen im Bereich neuer religiöser und ideologischer Gemeinschaften und Psychogruppen zu befürchten und in der Folge weitere gesamtgesellschaftliche Probleme."

Nur nebenbei sei bemerkt, daß die ca. 3,6 Millionen Moslems, die in Deutschland leben, keine Vertreter in der Kommission hatten; ob sie fortschrittlicher gewesen wären, ist eine andere Frage. Auch nur nebenbei: Die Kommission berief zwölf - nein, nicht Apostel, sondern - "Sachverständige", darunter nur eine einzige Frau. Jedenfalls ist das Weltbild jetzt klar.

Die Einführung des Ideologie-Begriffs in die Sekten-Debatte ist gemeinsam mit der Einführung des Dissidenten-Begriffs ein großer Schritt, den die Kommission auf dem Weg zum Großen Bruder gemacht hat. Denn nicht nur die SPD nennt in diesem Sondervotum "ideologische Gemeinschaften" als mögliches Objekt staatlicher Beobachtung und Intervention. Die ganze Kommission bekennt nun, sie hätte lieber "neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen" geheißen und wolle in Zukunft nur noch von diesen sprechen, statt von "Sekten". Dissidente Ideologie soll in Zukunft das Thema der Debatte sein, und damit ist man mitten im politischen Bereich, denn der Begriff der Ideologie ist ein politischer. Die Kommission, die scheinbar gegen "Sekten" antrat, hat - zumindest auch - politische Bewegungen im Visier. Damit nicht genug. En passant definiert der Bericht "dissident" und "deviant" als "defizitär", als minderwertig. So etwas kommt in der heutigen Zeit selbstverständlich verklausuliert daher: "Eine gewisse Konfliktträchtigkeit" gegenüber dem Rest der Gesellschaft sei dann tolerabel, wenn sie im Rahmen der etablierten christlichen Großreligionen auftrete, denn diese hätten "auch eine kritische Aufgabe gegenüber der Gesellschaft und dem Staat". Das gelte auch für "traditional religiöse Lebensformen", die durch "verstärkte Abschließungen oder sogar Abwehr von Modernisierung" gegenüber dem gesellschaftlichen Mainstream »dissidieren«. Gemeint sind wohl klassische Klöster, Mönchstum und dergleichen, die von denjenigen zwecks Bewältigung der "Modernisierungslasten" gewählt würden, die sich von der modernen Gesellschaft überfordert fühlten. "Deshalb können Destabilisierungen und Entrationalisierungen auch dazu führen, daß Menschen entgegen den Forderungen und Lasten, selbstverantwortlich, offen, mobil und reflexiv zu sein, neue Einbindungen und Sicherheiten im Sinne einer 'religiös-ontologischen Beheimatung' suchen. Diese Bewältigungsversuche dürfen keineswegs nur eindimensional als - gegenüber den modernen Prinzipien - defizitäre Lebensformem interpretiert und die Träger als 'gefährliche Sekten' bezeichnet werden." Geschieht dies jedoch außerhalb der christlichen Großreligionen, wird es unter Umständen doch "gefährlich" und Gegenstand staatlicher Aufsicht und Eingriffe.

Bemerkenswert ist hier u. a. das implizite Eingeständnis, Religion als Mittel zur Bewältigung der Krisen gesellschaftlicher Entwicklungen benutzen zu wollen - selbstverständlich zuerst mit Hilfe der etablierten Großreligionen, die dem Machtanspruch der Herrschenden noch nie wirklich gefährlich wurden. Die Modernisierungsverlierer sollen beten, wenn sie schon nicht mehr arbeiten können, "Modernisierungslasten" sollen individuell durch "religiös-ontologische Beheimatung" getragen werden. Die Kommission hat erkannt, daß hierzu auch ein Teil der nicht-christlichen, »neuen« religiösen Bewegungen nützlich sein kann; mit Ralf Bernd Abel - lange Zeit Top-Funktionär der NS-Sympathien verdächtigen "Deutschen Unitarier" - hatte sie einen "Sachverständigen" berufen, der Religion gleich mit Nation zu verbinden versteht. Die Vorsitzende MdB Ortrun Schätzle (CDU) hebt im Vorwort des Berichts den für sie positiven Effekt hervor, daß "eine Reihe von Bedürfnissen, Wünschen oder Lebensproblemen" auch "in diesen Gemeinschaften erfüllt und befriedigt werden sollen" - dann gehen die Menschen wenigstens nicht auf die Straße, um Rabatz zu machen. Für die Kommission sind nicht so sehr die gesellschaftlichen Entwicklungen der Grund für "Konflikte" als vielmehr die Existenz dissidenter Ideologien. Arbeitslosigkeit, Globalisierung, Verteilung der Ressourcen kommen als Analysekategorien nicht vor, entsprechend ist das Heilmittel: Gegenpropaganda statt Gesellschaftsveränderung. In Zeiten der sozialen Unsicherheit will man abweichende Meinungen zurückdrängen. "Nachsozialisation" der dissidenten Individuen heißt es im Bericht, als hätte Orwell tatsächlich die Feder geführt; Lenkung durch staatliche "Beratung" und durch "Hilfestellung" staatstragender Organisationen, vor allem der Kirchen.

Ein Informationsblatt der rheinland-pfälzischen Kultusministerin Rose Götte (SPD) zur "sogenannten alternativen Lebensbewältigungshilfe" empfahl schon vor einiger Zeit die Sektenbeauftragten der Kirchen als Ansprechpartner, nannte ihre Namen und die Telefonnummern der kirchlichen Beratungsstellen - ein Bruch der Verfassung, die den Staat zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet. Was aber tun, wenn Gegenpropaganda nicht mehr reicht, weil die gesellschaftlichen Folgen kapitalistischer Globalstrategien nun einmal nicht weggebetet werden können? Es bleibt nicht bei der individuellen "Nachsozialisation". Die heiße Diskussion über eine Bund-Länder-finanzierte Stiftung öffentlichen Rechts gegen Sekten, "die übergeordnet Rechtshilfe und finanzielle Unterstützung für die Beratungsstellen selber sowie für Aussteiger und sonstige Betroffene leisten soll" und der auch die Grünen zustimmen, verdeckt die bedeutsamste der "Handlungsempfehlungen" der Kornmission: die Einrichtung einer Art Bundesweltanschauungsbehörde, versteckt beim Bundesverwaltungsamt, "als Informations- und Dokumentationsstelle unter der Bezeichnung 'neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen'". Hier sollen Informationen über "dissidente Weltanschauungen" und "deviante Lebensformen" zentral gesammelt werden, aus diesem Infopool sollen "Informationen" weitergegeben werden an die "Dienststellen des Bundes und der Länder sowie alle Auskunfts- und Beratungsstellen von Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts oder von (privatrechtlichen) Stellen, die sich die Fürsorge für Betroffene von 'neuen religiösen und ideologischen Gemeinschaften und Psychogruppen' zur Aufgabe gemacht haben" - von hier aus will man "Aufklärung der Öffentlichkeit und Fachöffentlichkeit ... durch Informationsschriften und anderes" betreiben.

Eine Institution wie diese Bundesweltanschauungsbehörde gibt es im Rest der westlichen Welt nicht. Das gilt auch für diese "Handlungsempfehlungen" der Kommission: Die "Einführung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit für juristische Personen und Personenvereinigungen" - eine kleine Revolution im Strafrecht, das nur individuelles Verschulden und Verantworten kennt - zielt auf das Verbot ganzer Organisationen, wenn auch nur ein einziges Mitglied straffällig wird und man ihm unterstellt, es sei straffällig geworden aufgrund der Ideologie der Organisation oder auch nur in ihrem "Interesse", wie es im Bericht heißt. Die Beweisnot der Staatsanwaltschaften, die beim Paragraphen 129 Strafgesetzbuch (Bildung krimineller Vereinigungen) oft eine Verurteilung erschwert, wäre umgangen. Es gibt einen aufgeklärten Umgang mit dem Sektenproblem, und man hätte sich gewünscht, daß zumindest die PDS daran gedacht hätte. Doch die benannte als den ihr zustehenden "Sachverständigen" für die Kommission auch nur einen weiteren "Beauftragten für Weltanschauungsfragen" der evangelischen Kirche, der den Endbericht kritiklos mitträgt, und verlor ansonsten jegliches Interesse an der Arbeit der Kommission. Die Bedeutung des Berichts für den weiteren Ausbau des Überwachungsstaates, für die inhaltliche Ausfüllung des technischen Großen Lauschangriffs, hat auch in der PDS noch niemand bemerkt.

(1998)

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